„Negativ überrascht“ – Verfassungsexperte Kysela zu Urteil über Abgeordnetenimmunität

Jan Kysela (Foto: ČT24)

Eine Aufsehen erregendes Urteil des Obersten Gerichts hat in Tschechien eine Debatte um die Immunität von Parlamentariern ausgelöst. Das Gericht hatte entschieden, dass drei ehemalige Abgeordnete der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), denen lukrative Posten in Aufsichtsräten staatlicher Unternehmen zugesichert worden waren, wenn sie ihr Abgeordnetenmandat niederlegen, von der Strafverfolgung ausgenommen sind. Ein Gespräch mit Jan Kysela, Verfassungsexperte an der Prager Karlsuniversität, über die Definition der Immunität von Abgeordneten.

Jan Kysela  (Foto: ČT24)
Herr Kysela, das Urteil des Obersten Gerichtshof im Falle dreier ehemaliger ODS-Abgeordneter, die der Korruption beschuldigt wurden, hat eine hitzige Debatte über die Immunität von Abgeordneten ausgelöst. Warum? Ist die tschechische Verfassung hier nicht eindeutig?

„Die Debatte ist dadurch entbrannt, dass bis vor kurzem alle dachten, die Immunität sei eindeutig definiert. Und dann hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, dass es hier Interpretationsspielraum gibt. Jetzt wird darüber gestritten, ob die Verfassung maßgeblicher ist oder die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. Konkret geht es um den Begriff der ‚Äußerungen’ von Abgeordneten. Um möglichst gut die Interessen der Wähler zu vertreten und die Regierung zu kritisieren, können Abgeordnete laut der tschechischen Verfassung für diese Äußerungen nicht strafrechtlich verfolgt werden. Der Oberste Gerichtshof hat jetzt entschieden, dass eine ‚Äußerung’ eines Abgeordneten nicht nur eine verbale Äußerung sein muss, sondern auch eine Handlung sein kann, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Parlamentsdebatten steht. Mit dieser Interpretation hat das Gericht die Immunität von Parlamentariern maßgeblich erweitert.“

Oberster Gerichtshof  (Foto: Archiv der Polizei der Tschechischen Republik)
Eigentlich hat der Oberste Gerichtshof im Fall der drei ehemaligen ODS-Abgeordneten für eine Indemnität entschieden, nicht für die Immunität. Unterscheidet die tschechische Verfassung nicht ausreichend zwischen Indemnität und Immunität?

„Ich glaube doch. Aber es ist dasselbe Problem: Im Grunde ist die Indemnität klar definiert. Aber nach der Auslegung des Obersten Gerichtshofs ist nicht mehr eindeutig, worauf sie sich bezieht. Denn das Gericht hat entschieden, dass verschiedene politische Verhandlungen der Abgeordneten auch dann geschützt sind, wenn wir nicht wissen, ob sie im Parlament stattfanden oder nicht. Eigentlich sagt die tschechische Verfassung, dass sich die Immunität auf Äußerungen im Parlament bezieht. Und jetzt hat das Gericht diese Definition überraschend erweitert. Der Streit geht jetzt darum, was maßgeblich ist - was in der Verfassung steht, oder was das Gericht sagt.“

Foto: Archiv Radio Prag
Es geht im Kern um die Auslegung des Begriffs „projev“ – also „Ausdruck oder Äußerung“ - der Abgeordneten. Müsste Ihrer Meinung nach das Verfassungsgericht diesen Begriff konkreter definieren?

„Der Oberste Gerichtshof grenzt diesen Begriff leider nicht näher ein, weil er sich diese Frage überhaupt nicht stellt. In seiner Begründung heißt es, dass eine ‚Äußerung’ im Grunde eine Handlung ist, und dann folgt eine Aufzählung verschiedener Handlungen. Die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs wird mit keinem Wort problematisiert. Das macht es schwerer, gegen das Urteil zu polemisieren. Es ist eine apodiktische Auslegung: Eine ‚Äußerung’ ist eine Handlung. Punkt. Das ist das Manko dieses Urteils.“

Tschechisches Abgeordnetenhaus  (Foto: ČT24)
Ist das ein Fall für die Sprachwissenschaftler?

„Ich glaube nicht. Man muss nicht unbedingt ein Linguist sein, um die Verfassung auslegen zu können. In meinen Augen geht es vor allem darum, sich über den Sinn dieser Festlegung Gedanken zu machen. Und dieser Sinn lässt sich historisch ableiten, von der englischen Bill of Rights aus dem Jahr 1789. Mit ihr sollte verhindert werden, dass Abgeordnete für das, was sie sagen, strafrechtlich verfolgt werden. Daher kam die Bestimmung, dass nichts, was im Parlament verhandelt wird, zum Straftatbestand werden kann. Der Sinn dieser Bestimmung ist also, dass die freie Meinungsäußerung im Parlament garantiert wird – da, wo die Abgeordneten mit der Öffentlichkeit kommunizieren, die Opposition kritisieren oder die Regierung. Und nicht, wie jetzt geschehen, dass alle Handlungen der Abgeordneten geschützt sind, egal wo sie stattfinden und was sie zum Gegenstand haben.“

Vít Bárta  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Hat Sie das Urteil des Obersten Gerichtshofs überrascht?

„Sehr. Und aus dem, was ich bisher gesagt hab, dürfte auch klar geworden sein, dass es mich negativ überrascht hat. Aber wir hätten auf dieses Urteil gefasst sein können, denn es gibt ein ähnliches Urteil aus dem Vorjahr – da ging es um die Immunität der Abgeordneten Bárta und Škárka. Auch hier hat das Gericht den Begriff der Immunität sehr extensiv ausgelegt. Es hat eine Äußerung, bei der es um Bestechung ging, als geschützt ausgelegt, obwohl sie nicht im Parlament, sondern innerhalb der Fraktion fiel. Damals hat das Gericht diese Entscheidung aber wenigstens argumentativ begründet, auch wenn es in meinen Augen eine falsche Entscheidung war. Aber ich hatte gehofft, es wäre eine Ausnahme gewesen. Dass sich das Gericht bei der jetzigen Entscheidung nicht einmal mehr um eine Argumentation bemüht hat, war für mich eine negative Überraschung.“

Wie sollte man Ihrer Meinung nach den Begriff „projev“ auslegen?

„Als eine verbale Äußerung oder eine Geste, die dazu dient, eine politische Meinung zu äußern und die dem Nutzen meiner Wähler dient. Das heißt, ich darf meinetwegen auch unhöflich mit jemandem kommunizieren – solange es auf dem geschützten Boden des Parlaments stattfindet. Hier ist in meinen Augen jede Äußerung erlaubt, auch wenn sie dumm oder rassistisch ist. Wenn der Rahmen des Erträglichen überschritten wird, bekommt der Abgeordnete eine Disziplinarstrafe. Aber entscheidend ist, dass es sich um eine öffentliche Äußerung handelt. Und nicht – wie im Falle der drei ODS-Abgeordneten - um Geflüster hinter den Kulissen.“