Neue Studie: LGBTQ+-Menschen in Tschechien und ihre Erfahrungen mit Hasskriminalität
In den vergangenen fünf Jahren haben 51 Prozent der LGBTQ+-Menschen in Tschechien vorurteilsgeleitete Beleidigungen, Übergrifflichkeiten und die Androhung von Gewalt erlebt. Die Hälfte aller Schwulen, Lesben, bisexuellen, queeren und Trans-Personen im Land sieht sich also in der Gesellschaft mit einer offen negativen Haltung konfrontiert. 42 Prozent der Schwulen etwa vermeidet es deswegen auch, in der Öffentlichkeit mit ihren Partnern Händchen zu halten. Dies sind nur zwei Zahlen aus einer umfangreichen landesweiten Studie, deren Ergebnisse erstmals im Februar vorgestellt wurden. In der Befragung ging es auch um Erfahrungen von LGBTQ+-Menschen mit körperlicher und sexueller Gewalt – sowie um die Gründe, warum nur ein sehr geringer Anteil dieser Übergriffe der Polizei gemeldet wird.
„Být LGBTQ+ v Česku 2022“, zu Deutsch also „LGBTQ+-Sein in Tschechien 2022“ – das ist der Titel der neuen Studie des Nationalen Instituts für seelische Gesundheit (NÚDZ) und der Organisation Queer Geography. Auf 283 Seiten werden Erfahrungen beschrieben, die LGBTQ+-Menschen in Tschechien mit Diskriminierung, Belästigung und Hasskriminalität machen. Michal Pitoňák ist einer der beiden Autoren und der Vorsitzende von Queer Geography. Auf der Konferenz „Společně proti nenávisti“ (Gemeinsam gegen Hass), die Mitte Februar in Prag stattfand, stellte er die wichtigsten Punkte vor:
„Bei der Nennung von LGBTQ+ ist heute allseits bekannt, dass darunter eine Gruppe zu verstehen ist, die im Hinblick auf die sexuelle Orientierung sowie die Genderidentität sehr vielschichtig ist. Leider werden diese Aspekte sehr oft vermischt, obwohl es sich um sehr unterschiedliche Menschen handelt, die sehr unterschiedliche Fragen beschäftigen und die in der Gesellschaft auf sehr unterschiedliche Probleme stoßen. Wir haben fast 3500 Personen befragt, und dies ist in Tschechien die bisher größte Stichprobe zu dieser Thematik.“
Anknüpfungspunkt für den Fragebogen war eine Studie mit dem gleichen Titel, die 2019 von der damaligen tschechischen Ombudsfrau, Anna Šabatová, herausgegeben wurde. Inspirationen hätten aber noch 26 weitere, nationale und internationale Untersuchungen geliefert, erläutert Pitoňák. Der Fragenkatalog von Queer Geography richtete sich an LGBTQ+-Personen ab zwölf Jahren in Tschechien und wurde online ausgefüllt. Zum Auftakt seien die Teilnehmenden gebeten worden, ihre eigene Stellung in der Gesellschaft einzuschätzen, so der Autor:
„Lesben, Schwule und Bisexuelle bewerten ihre Stellung durchschnittlich gut. Diesbezüglich gab es also keine Veränderungen im Vergleich mit den Studien der vergangenen fünf Jahre. Wir haben dieselbe Frage nun aber auch speziell Trans-Personen gestellt und zum ersten Mal überhaupt auch nicht-binären Menschen, die für gewöhnlich völlig übergangen werden. Beide Personengruppen betrachten ihre gesellschaftliche Stellung wesentlich negativer als die LGB-Gruppe. Besonders nicht-binäre Menschen sehen dies sehr kritisch.“
Konkret sollten die Teilnehmer eine Skala von Null (sehr negativ) bis Neun (sehr positiv) nutzen. Lesben, Schwule und Bisexuelle bewerteten ihre Situation im Schnitt mit 4,9. Im Vergleich mit 2019 bedeutet dies eine leichte Verbesserung um 0,5 Punkte. Bei Trans-Menschen erreichte der Wert 2,9 und bei nicht-binären Personen nur 2,1. Im Folgenden sei nach den Gründen für diese Einschätzungen gefragt worden, berichtet Pitoňák:
„Wir haben herausgefunden, dass das häufigste Vorurteil eine trans-negative Haltung ist – jenes Klischee also, dass nur Mann und Frau existieren, zwei klar definierte Geschlechter und nichts anderes. Dieser trans-negative Stereotyp ist in Tschechien am meisten verbreitet, auf ihn sind schon 91 Prozent der Befragten gestoßen. Ebenso wissen wir, dass langfristig Druck auf die Rechte von LGBTQ+-Menschen ausgeübt wird in der Absicht, diese Menschen aus dem öffentlichen Raum zu drängen. Dies äußert sich in der Forderung, ihre Identität im Privatbereich zu belassen, oder in dem Vorwurf, sich nur hervorheben zu wollen. Unsere Daten zeigen, dass diese Klischees jetzt häufiger auftreten als früher.“
Laut der Analyse sind es 78 Prozent der Befragten, die in ihrem Leben schon mit dem Vorurteil konfrontiert waren, dass die sexuelle Orientierung Privatsache sei und nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden sollte.
Vorurteile gegen LGBTQ+-Personen nehmen in Tschechien zu
Bei der Frage nach den Ursachen für eine Verschärfung der gesellschaftlichen Stimmung gegen LGBTQ+-Menschen in Tschechien kristallisiert sich in der Umfrage ein Grund ganz besonders heraus: 63 Prozent der Teilnehmenden machen dafür eine negative Haltung der Politiker und Parteien verantwortlich. Pitoňák vergleicht dies mit gesamteuropäischen Daten und spricht von einem „markanten Anstieg“ von 44 Prozent seit der ersten Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2012.
Die Umfrageteilnehmer sehen aber durchaus ebenso positive Entwicklungen in der tschechischen Gesellschaft. 47 Prozent hoben etwa die Sichtbarkeit und Einbindung von LGBTQ+-Menschen im alltäglichen Leben hervor. Auf die Nachfrage, ob denn einige der Untergruppen schon weitläufiger akzeptiert seien, sagt der Soziologe:
„Dies ist schwer zu beantworten, denn die einzelnen Gruppen haben mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen. Trans-Personen erfahren eine ganz andere Art von Feindlichkeit als etwa Schwule, die mehr physische Gewalt erleben. Frauen und Trans-Frauen wiederum haben ein großes Problem mit sexueller Gewalt. Es kann also nicht eindeutig bestimmt werden, welche Gruppe mehr und welche weniger bedroht ist.“
Damit kam Pitoňák auf die Gewalterfahrungen zu sprechen, die viele LGBTQ+-Menschen in Tschechien machen. Körperliche oder sexuelle Übergriffe sowie deren Androhung haben 18 Prozent aller Befragten schon einmal erlebt. Unter den Trans-Frauen liegt dieser Anteil sogar bei 60 Prozent. Um die Menschen besser zu schützen, ist Queer Geography einer der Mitinitiatoren für den Aufruf „Společně proti nenávisti“ (Gemeinsam gegen Hass), unter dessen Titel die Konferenz im Februar stattgefunden hat. Eine zentrale Forderung dabei ist, LGBTQ+-Personen sowie Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen als Opferkategorie von Hasskriminalität im tschechischen Strafgesetzbuch aufzunehmen. Eine weitere Forderung betrifft die Einführung der Ehe für alle. Dazu Pitoňák:
„Wir beobachten einen anhaltend hohen Wunsch nach einer Ehe für alle. Dieser liegt quasi dauerhaft bei 98 bis 99 Prozent und diesmal sogar ganz leicht höher als in der vorangegangenen Studie von 2019.“
97 Prozent der Befragten wünschen sich zudem ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Und 93 Prozent sprechen sich für die Einführung einer Präventionsstrategie gegen homophobe und transphobe Schikane in Schulen aus.
Die neue Studie arbeitet nicht nur mit trockenen Zahlen. Die Statistiken werden ergänzt mit Einzelaussagen von Umfrageteilnehmern. Pitoňák zitiert eine solche:
Opfer von Übergriffen haben kein Vertrauen in die Polizei
„Beim Spaziergang mit ihrer damaligen Freundin sagte ein vorbeigehender Mann zu ihnen, dass solche wie sie erschossen werden sollten – berichtet eine 19-jährige Lesbe aus dem Kreis Ústí nad Labem. Es ist für uns wirklich schwierig, diese Aussagen anzuhören. Vor allem auch, weil unsere Daten belegen, dass nur zwei Prozent der Betroffenen alle ihre Diskriminierungserfahrungen bei offiziellen Stellen melden. Immerhin melden zehn Prozent der Befragten zumindest einige der Vorfälle. Rechnen wir dies zusammen, dann bringen nur zwölf Prozent der LGBTQ+-Menschen in Tschechien diskriminierende Vorfälle zur Anzeige. Das ist wenig.“
Gründe dafür gebe es zwei, so der Soziologe weiter: Zum einen hätten die Betroffenen kein Vertrauen in die Institutionen und würden nicht glauben, dass sich etwas ändern würde. Zum anderen herrsche bei ihnen das Gefühl vor, dass die erlebten Beleidigungen und Übergriffe zu trivial seien für eine offizielle Ermittlung und vielmehr als etwas Normales angesehen werden müssten.
Konfrontiert mit diesen Ergebnissen entgegnete auf der Konferenz der tschechische Polizeipräsident Martin Vondrášek, dass seine Institution das Thema Hasskriminalität sehr ernst nehme:
„Die Polizei Tschechiens muss täglich auf etwa 4000 Hinweise reagieren. Ich möchte betonen, dass wir für absolut alle da sind. In dem Moment ist es uns ganz egal, ob ein Kind, ein Mensch mit Handicap oder ein Mitglied einer sexuellen Minderheit unsere Hilfe braucht. Ich könnte auch damit argumentieren, dass den letztjährigen Untersuchungen des Zentrums für Meinungsforschung zufolge 79 Prozent der Bevölkerung der Polizei vertrauen. Wir haben davor großen Respekt und wissen, dass man das Vertrauen auch sehr schnell verlieren kann. Ich möchte darauf verweisen, dass die Polizei in den vergangenen zwei Jahren nicht wenig Arbeit in diesem Bereich geleistet hat.“
Dazu würden Weiterbildungsmaßnahmen zur Identifizierung der Opfer von Straftaten gehören, ergänzt Vondrášek, des Weiteren öffentliche Informationen zu Ansprechpartnern oder auch ein System zum Krisenmanagement, einschließlich eines Beratungstelefons.
Soziologe Pitoňák geht noch auf den zweiten Grund für die Zurückhaltung von LGBTQ+-Menschen ein:
„Unsere Daten zeigen, dass viele dieser Menschen das Gefühl haben, ihre Diskriminierungserfahrungen seien normal. Dies knüpft an die Frage nach der Rolle der Medien an. Es herrscht die Auffassung, dass ‚zu viel über LGBTQ+ gesprochen wird‘ oder sie sich ‚zu sehr hervorheben‘. Darin äußert sich das Anliegen eines Teils der Gesellschaft, LGBTQ+-Personen aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen und deren Anliegen symbolisch unterzubewerten. Dies nehmen die Betroffenen wahr und verinnerlichen dadurch die Haltung, dass ihre Probleme nicht ernst genug seien, um von der Gesellschaft diskutiert zu werden.“
Pitoňák räumt aber ein, dass im Falle von Gewalt- und Sexualstraftaten eine höhere Bereitschaft bestehe, die Vorfälle zur Anzeige zu bringen. Diesbezüglich gaben 67 Prozent der Befragten an, sich an die Polizei zu wenden.
Die aktuelle Studie von Queer Geography belegt nun nicht nur, wie verbreitet Vorurteile und Hasskriminalität gegenüber LGBTQ+-Menschen in Tschechien sind. Laut ihrem Co-Autoren Pitoňák legt sie auch den Grundstein dafür, die Entwicklungen in dieser Problematik auf längere Zeit zu beobachten und zu analysieren. Alle bisherigen umfragebasierten Forschungen hätten noch keine einheitliche Terminologie verwendet, kritisiert der Soziologe. Dadurch seien Vergleiche, vor allem mit Arbeiten aus dem Ausland, nur schwer möglich gewesen. Durch die Auswertung zahlreicher vorangegangener Studien ist laut Pitoňák nun aber eine Methodologie entwickelt worden, die auch für Nachfolgebefragungen anwendbar sei:
„Bisher wird diese Personengruppe in der Gesellschaft in gewisser Weise übergangen. Queer Geography hat im vergangenen Jahr eine Publikation erstellt als Anleitung für die Erhebung sexueller Orientierungen und Genderidentitäten in wissenschaftlichen Forschungen. Denn jegliche Forschungen und Umfragen etwa im sozialen oder Gesundheitsbereich fragen die Teilnehmer nicht nach ihrer sexuellen Orientierung oder Genderidentität. Alles wird abgetan mit der Frage, ob sie männlich oder weiblich seien, und mehr erfahren wir über die Menschen nicht. Wie können wir so aber die Frage beantworten, wie sich die seelische Gesundheit von Heterosexuellen und die von Schwulen, Lesben oder Bisexuellen unterscheidet, wenn in allen Studien von der Heterosexualität ausgegangen wird und gleichzeitig alle anderen Genderidentitäten übergangen werden?“
Das Team von Queer Geography glaube, dass unterschiedliche Genderidentitäten auch bedeutsame Unterschiede in den verschiedenen Lebensbereichen nach sich zögen, fügt Pitoňák hinzu. Darauf wolle man die Aufmerksamkeit lenken. Und darum trügen Studien wie die aktuelle zu einem kultivierteren Umgang mit diesen Personengruppen in Tschechien bei, so die Überzeugung des Soziologen.