Vertreibung und Benes-Dekrete im Geschichtsunterricht
Aus dem Prager Studio begrüßen Sie nun, verehrte Hörerinnen und Hörer, Ludmila Clauss und Silja Schultheis zum Themenkaleidoskop. Im Mittelpunkt unserer heutigen Sendung steht die Frage, was tschechische Schüler im Geschichtsunterricht eigentlich über die Nachkriegsgeschichte und insbesondere die sog. Benes-Dekrete lernen, über die in den letzten Wochen ja nicht nur in der tschechischen Öffentlichkeit eine heiße Debatte entbrannt ist. Wir wollen uns diesem auf höchster Ebene z.T. stark politisierten Thema also gewissermaßen von unten nähern und hoffen, dass Sie uns in den folgenden Minuten Ihre Aufmerksamkeit schenken, auch wenn Sie das Wort Benes-Dekrete womöglich schon langsam nicht mehr hören können.
Wir beginnen unseren Ausflug in die Geschichtsstunden tschechischer Schüler mit einem Blick in einige einschlägige Lehrbücher, auf die ein beträchtlicher Teil der Geschichtslehrer an den hiesigen Mittelschulen zurück greift. Wie darin die Themen Benes-Dekrete und Vertreibung behandelt werden, hat Heidrun Dolezel analysiert. Mit ihren Lehrbuchuntersuchungen beteiligt sie sich seit Jahren aktiv an den Schulbuchkonferenzen, die das Georg-Ecker-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig gemeinsam mit dem Lehrstuhl für tschechische Geschichte an der Prager Karlsuniversität seit Ende der 80er Jahre regelmäßig organisiert. Ab Oktober übrigens werden diese Konferenzen auch vom tschechischen Schulministerium offiziell anerkannt.
Frau Dolezel hat sowohl tschechische Schulbücher für die Mittelschule als auch deutsche Gymnasiallehrbücher hinsichtlich unterschiedlicher Epochen, vom Mittelalter bis in die jüngste Zeit, analysiert. Was die Behandlung der Nachkriegsgeschichte anbelangt, ist ihr folgendes aufgefallen:
"In den deutschen Schulbüchern spielt die Vertreibung - und die Benes-Dekrete erst recht - überhaupt keine Rolle. Das Thema ist ganz minimal behandelt. Es wird pauschal gesagt: so und so viel Millionen Deutsche sind aus Gebieten Polens, Ostpreußens und der Tschechoslowakei vertrieben worden. Und das ist alles. Im Prinzip geht es in den deutschen Schulbüchern darum, dass es ein Problem war, diese Massen im Land unterzubringen und zu versorgen. In Bayern ist das ein wenig ausführlicher, aber das ist ganz minimal. Was die tschechischen Lehrbücher anbelangt: Ich habe hier drei verschiedene vorliegen. Zum einen 'Dejiny zemi koruny èeské'. Das ist sehr ausführlich. Und dann hab ich zwei neuere: eins von J. Kuklik. Das ist ein Lehrbuch für Weltgeschichte. Da gibt es nur einen ganz kurzen Absatz, in dem es heißt, dass sich die Wut des Volkes hauptsächlich gegen das deutsche Volk richtete, nach dem Prinzip der Kollektivschuld. Und mit Zustimmung der Alliierten wurde die breite Aussiedlung der Deutschen, vor allem aus Polen und der Tschechoslowakei durchgeführt. Mehr sagt er nicht. Nun ist das eben ein Lehrbuch für Weltgeschichte, und da braucht man sich vielleicht nicht so zu wundern. Dann hab ich noch ein neueres: das ist von 1998, von Josef Harna und Rudolf Fischer: Dejiny ceskych zemi, Teil 2. Das begründet einfach, dass sich nach dem Münchener Abkommen und nach den Leiden der Okkupation ganz einfach eine Wut angestaut hat, die darin kulminierte, dass man beschloss, einen Nationalstaat zu bilden und den Anteil der Deutschen erheblich zu 'beschneiden', heißt es da. Und es geht eben darauf ein, dass der Transfer in Abstimmung mit den Alliierten stattfand. Auch die 'wilden Vertreibungen' werden kurz erwähnt, dass es sie gab und wie viele Menschen vertrieben wurden, das schon."
Von den Schulbuchverlagen nun in die Praxis tschechischer Geschichtslehrer. Einem unlängst in der Tageszeitung Lidove noviny erschienenen Artikel zufolge hängt es in erster Linie von der Persönlichkeit des Lehrers ab, wie beispielsweise die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg im Unterricht behandelt wird. Die Lehrbücher würden hierzu keinen eindeutigen Standpunkt vertreten. Fühlen sich die Lehrer somit sich selbst überlassen - oder sind sie umgekehrt zufrieden mit den Materialien, die ihnen zur Verfügung stehen?
Vladimir Popp, Historiker und mehrere Jahre lang Geschichtslehrer am Gymnasium Cheb:
"Ich bin zufrieden. Ich muss sagen, die tschechische Geschichtswissenschaft hat einen würdigen Weg gefunden, sich mit diesen Problemen auseinander zu setzen. Bei den Politikern ist das anders, aber das ist ihre Sache. Was jedoch die Geschichtsschreibung anbelangt, so betrachte ich die Auseinandersetzung als sehr angemessen. Davon können Sie sich überzeugen, wenn Sie den zweiten Band der 'Geschichte der böhmischen Krone' zur Hand nehmen."
Gleichzeitig hat Popp die Erfahrung gemacht, dass bei weitem nicht alle Geschichtslehrer sich der jüngeren Geschichte im Unterricht auch wirklich widmen:
"Es gibt einige Lehrer der älteren Generation, die gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht gerne haben."
Und wie reagieren die Schüler auf die Behandlung der Nachkriegsgeschichte im Unterricht? Popp erinnert zunächst daran, dass in der Grenzregion um Cheb/Eger, die vor dem Krieg fast zu 100% von Deutschen bewohnt war, die Geschichte äußerst lebendig ist, einige der Schüler beispielsweise durch ihre Vorfahren ein negatives Deutschenbild überliefert bekommen haben. Auch darauf müssten die Lehrer im Unterricht eingehen. Auf der anderen Seite betont er:
"Die absolute Mehrheit unserer Schüler interessiert diese Frage nicht. Sie sind ihr gegenüber bereits gleichgültig. Das ist für sie so weit weg, als wenn man mit ihnen über den griechisch-persischen Krieg sprechen würde."
Ortswechsel: Jitka Neradova, Geschichtslehrerin am Prager Thomas Mann-Gymnasium, hat ganz andere Erfahrungen gemacht, was das Interesse der Schüler an der Nachkriegsgeschichte anbelangt:
"Dieses Thema ist für die Schüler sehr interessant. Sie äußern sich selbst gerne zu der neueren Geschichte und haben die Tendenz zu diskutieren. Das ist spannender für sie als beispielsweise die Geschichte des Mittelalters. Wir behandeln diesen Stoff auch so, dass ich die Schüler auffordere, mit ihren Großeltern zu sprechen oder in ihrer Umgebung Denkmäler aus der damaligen Zeit zu suchen."
Beobachtet Frau Neradova aufgrund der jüngsten Äußerungen von Premier Milos Zeman über Sudetendeutsche und die umfangreiche Diskussion dieses Themas, die dadurch in den Medien entfacht wurde, ein gesteigertes Interesse ihrer Schüler an der Nachkriegsgeschichte?
"Wenn ich ehrlich sein soll: im Zusammenhang mit den Äußerungen von Herrn Zeman nicht. Da seine Äußerungen oft - wie soll ich sagen: naja, die Eltern reagieren darauf mit Zurückhaltung. Sie sind eher der Meinung, dass das ein künstliches Aufbauschen des Problems ist. Und dass die Kinder selbst kommen würden und sagen, sie wollten über die Dekrete sprechen, das passiert nicht. Die Diskussion muss ich entfachen."
Auch Jitka Neradova äußert sich relativ zufrieden darüber, wie in den tschechischen Lehrbüchern die Nachkriegsgeschichte behandelt wird. Das Hauptproblem ist ihrer Meinung nach ein anderes: die wenige Zeit, die den tschechischen Geschichtslehrern zur Verfügung steht. Ihr größter Wunsch für die Zukunft des Geschichtsunterrichts lautet daher:
"Ganz entschieden eine viel höhere Stundenzahl. Im Grunde können wir ja noch von Glück reden, dass wir bei uns in der Schule für Geschichte zwei Wochenstunden bekommen. Von Kollegen aus anderen Schulen weiß ich, dass sie nur eine Wochenstunde zur Verfügung haben, und manchmal noch nicht einmal das. Geschichte verschwindet langsam zu Gunsten anderer Fächer aus den Schulen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann den, dass wir mindestens drei oder vier Stunden pro Woche für Geschichte hätten, damit auch Zeit ist, die Probleme zu diskutieren."
Mit diesem Wunsch, auf dessen Erfüllung wir gemeinsam mit Jitka Neradova hoffen, verabschieden wir uns von Ihnen und danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.