Der tschechische Erste Mai von 1890 bis zur Gegenwart
Aus Anlass des heutigen Staatsfeiertages haben wir eben das Thema "Erster Mai" aufgegriffen, um einen Rückblick auf die im Wandel der Zeit recht unterschiedliche Tradition dieses besonderen Tages zu machen. Den Gang durch die Jahrzehnte hat Gerald Schubert unternommen:
Doch halt: Wenn vom Ersten Mai, vom Tag der Arbeit die Rede ist, dann wird aus dem schönen kveten plötzlich doch ein maj. Mit j am Ende geschrieben. Die internationale Bedeutung jenes Feiertags hat sich also offenbar auf die tschechische Sprache nachhaltiger ausgewirkt als die ebenso weithin verbreitete Tatsache, dass im Frühjahr die Blumen blühen. Doch diese feine Unterscheidung zwischen Erscheinungen der Natur und der aus dieser oftmals abgeleiteten politisch aufgeladenen Symbolik ist hierzulande gar nicht mal einzigartig. Ganz ähnlich nämlich verfahren die Tschechen mit dem Wort rot. Cerveny heißt sie normalerweise, die Farbe des Feuers, des Blutes und der Liebe. Doch im politischen Kontext wird daraus dann doch wieder ein: rudy. Und so hieß eine über viele Jahrzehnte als Sprachrohr des kommunistischen Regimes fungierende Tageszeitung "Rude pravo" - "Rotes Recht".
Den Prvni maj, den Ersten Mai also, den gab es als Feiertag freilich auch schon vor der kommunistischen Machtergreifung in der Tschechoslowakei, und es gibt ihn auch heute noch. Doch im turbulenten Verlauf des nicht zuletzt von politischen Mythen geprägten vergangenen Jahrhunderts hat sich freilich auch die Bedeutung des Ersten Mai stark verändert - und damit auch sein Antlitz.
Werfen wir also einen Blick zurück auf die Anfänge, konkret auf den Ersten Mai 1890, als in Böhmen, damals noch Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie, ebenso wie in zahlreichen anderen Ländern der Erde auch, zum ersten Mal aufmarschiert wurde:
Kurz zur Vorgeschichte: Am ersten Mai 1886 waren in Chicago 350.000 Arbeiter auf die Straße gegangen, um für bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren. Eine der Hauptforderungen dabei war die Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von damals zehneinhalb auf acht Stunden. Im Gefolge jener von einem Generalstreik begleiteten Protestkundgebung kam es zwei Tage später zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern und der Polizei, bei denen sechs Demonstranten getötet wurden. Auf einem Kongress der Sozialistischen Internationale in Paris wurde schließlich im Sommer 1889 beschlossen, diesen Tag von nun an alljährlich, zum Gedenken an die Ereignisse in Chicago, als Tag der Arbeit zu begehen.
Den ersten "Ersten Mai", der auch in Prag im Jahre 1890 abgehalten wurde, hat der berühmte tschechische Schriftsteller Jan Neruda ein Jahr vor seinem Tod noch miterlebt. In einem später zur Pflichtlektüre an den Schulen kanonisierten Feuilleton namens "Erster Mai 1890" für die damals bedeutenden "Narodni listy" (Nationalzeitung) hat Neruda seine Eindrücke wiedergegeben:
"Wahrhaft! Die, die wir ihn noch erlebt haben, wir haben den unvergesslichsten Ersten Mai in der Menschheitsgeschichte erlebt. Ja vielleicht sogar den unvergesslichsten Tag in dieser Menschheitsgeschichte überhaupt! Mit ruhigem, eisernen Schritt strömten am Ersten Mai 1890 die Bataillone der Arbeiter herbei, zahlreich, unüberschaubar, und reihten sich ein in die menschlichen Reihen, auf dass sie für immerdar gemeinsam mit uns anderen für die noblen menschlichen Ziele schritten, mit dem selben Vormarsch, gleichberechtigt, gleich beladen und mit dem gleichen Glück. Es war dies ein mächtiges Geschehen, unwiderstehlich, wie das Rollen der Wellen des Ozeans. Wer hinsah, der verstand, was "elementare Kraft" bedeutet! Auch wenn sie übertragen ist auf eine geistige, eine sittliche Sache!"
Aus der von Jan Neruda beschriebenen "geistigen, sittlichen Sache", aus dem Kampf jener Menschen, die aus den Trägern immer mehr zu den Opfern der Industriegesellschaft geworden waren, wurde freilich mehrere Jahrzehnte später, und das wiederum für mehrere Jahrzehnte, in weiten Teilen der Welt ein Schauplatz der propagandistischen Theatralik kommunistischer Regime. Überall dort, wo sich der sogenannte "real existierende Sozialismus" unter der Schirmherrschaft der Sowjetunion einzementiert hatte, verkamen die Maifeiern schnell zur Huldigung der Machthaber und zur Inszenierung der Einheitlichkeit, deren Statisten sich allerdings in ihrer überwiegenden Anzahl nicht wirklich freiwillig zu den Aufmärschen begaben. Bis in die Betriebe, bis in die Privatsphäre hinein ging die Organisation der offiziellen Kundgebungen, und wer sich ihnen entzog, der hatte in der Regel zumindest Erklärungsbedarf.
In der Tschechoslowakei fand der Umbruch im Februar 1948 statt. Damals kam es zur Machtergreifung durch die Kommunisten, die Einordnung des Landes in den später als "Ostblock" bezeichneten sowjetischen Machtbereich war damit besiegelt. Freilich stand somit der Erste Mai des Jahres 1948 noch ganz im Zeichen jenes Umsturzes, und dass der Tag somit auch von entsprechendem Pathos getragen war, versteht sich von selbst. Oder besser gesagt: Von jener eigentümlichen Mischung aus Pathos und Kälte, die für die politische Sprache der kommenden Jahrzehnte hier so typisch war. Hören Sie etwa den damaligen Abgeordneten der tschechoslowakischen Nationalversammlung, Otto Sling, der 1948 in der mährischen Metropole Brno / Brünn seine Maiansprache hielt:
"Wir begrüßen euch an diesem denkwürdigen, ruhmreichen Tag. Dem ersten einmütigen, freudvollen Ersten Mai. Wir beglückwünschen euch zu den erzielten Erfolgen des Aufbauwerks. Heute beweisen wir unseren Willen, den Frieden zu festigen und zu arbeiten am Aufblühen des ganzen Volkes. Heute, in unserem schönen, tschechischen Brünn, versprechen wir einmütig, unsere Stadt als eine schöne Heimat des freudigen Lebens aufzubauen. Alle in eine Reihe, alle in einen Zug! Alle für die Republik, für Frieden und Glück! Es lebe der erste, einheitliche, ruhmreiche und freudvolle Mai!"
Es sollten noch viele dieser "einheitlichen" Maifeiern folgen. Doch auch wenn diese, wie bereits erwähnt, vor allem öffentliche Inszenierungen des kommunistischen Regimes mit weitgehend verpflichtender Teilnahme darstellten, so gab es im Verlauf der folgenden Jahrzehnte, also bis zur politischen Wende des Jahres 1989, doch auch Unterschiede zu verzeichnen. So verschwanden etwa, nachdem man sich auch in der Sowjetunion zur Kritik an den diktatorischen Methoden des ehemaligen Führers Stalin durchgerungen hatte, im Jahre 1956 dessen Portraits aus den Maiumzügen. Ab dem Jahr 1964 sprach man gar von drei Bedeutungen des Ersten Mai: Dieser sollte fortan nicht mehr nur ein Feiertag des Sozialismus sein, sondern auch einer des Friedens und gar einer des Frühlings. A propos Frühling: Vier Jahre später, am Höhepunkt des sogenannten "Prager Frühlings", als sich die Tschechoslowakische Staatsführung, getragen von der Sympathie großer Teile des Volkes, um einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" bemühte, da verzeichnete man - fast möchte man sagen paradoxerweise - die stärkste Beteiligung an den Maiaufmärschen überhaupt. 400.000 Menschen waren zu der Tribüne gekommen, auf welcher im Jahre 1968 der Reformparteichef Alexander Dubcek stand. Dreieinhalb Monate später, als die Panzer der Warschauer-Pakt-Truppen den Prager Frühling niederwalzten, war es mit Aufbruchsstimmung aber bekanntlich wieder vorbei.Im November 1989 war mit der sogenannten Samtenen Revolution auch in der Tschechoslowakei das kommunistische Regime am Ende. Seither hat der Erste Mai hierzulande nur noch eine eingeschränkte, oder besser gesagt: eine sehr divergente politische Bedeutung. Die Kommunisten feiern ihn freilich wie eh und je, wenn auch natürlich in vergleichsweise äußerst bescheidenem Umfang. Auch die tschechischen Sozialdemokraten nutzen den Feiertag für politische Kundgebungen und versuchen, diesen in seiner ursprünglichen Bedeutung und in Bezug auf die gegenwärtige Rolle der Sozialdemokratie wieder neu zu definieren. Und verschiedenste, vorwiegend aus Jugendlichen bestehende radikale Gruppierungen, von anarchistisch bis rechtsextrem, setzen sich am Ersten Mai in Szene und provozieren dabei bisweilen Auseinandersetzungen untereinander oder mit der Polizei.
Für den überwiegenden Teil der Tschechinnen und Tschechen aber ist der Erste Mai ein Feiertag - also ein freier Tag - wie jeder andere auch. Und so tun auch viele Pragerinnen und Prager am Ersten Mai das, was sie an anderen Feiertagen auch tun: Sie fahren aufs Land in ihr Wochenendhaus. Dorthin, wo man sich früher oft vor der sonst nahezu allgegenwärtigen Staatsmacht zurückgezogen hat, dorthin zieht man sich jetzt gerne vor dem als hektisch empfundenen Alltag zurück.
"Und dann plötzlich liege ich im Garten im Gras und sehe in den Himmel" heißt es in einem Lied der neueren tschechischen Unterhaltungsmusik. Das Gras ist grün, der Himmel ist - mit einigem Glück - blau, und wenn man in Tschechien mit diesen Farben überhaupt etwas politisches assoziiert, dann gibt es für diese Bedeutung bestimmt keine eigenen Worte. Auch das eingangs erwähnte "rudy" für das politische rot ist kaum noch irgendwo zu hören. Rot ist eben einfach eine Farbe, und wenn etwas rot ist, dann ist es cerveny. Doch der Erste Mai, der heißt noch immer "Prvni maj". Kveten, abgeleitet vom Wort "kvet" für Blüte, ist zwar ein schöner Name. Am Ersten Mai aber hört er sich dann doch etwas zu kalendarisch an.