Patrik Ouredník "Europeana"
In Tschechien "Buch des Jahres 2001" und monatelang auf den Bestsellerlisten reflektiert "Europeana" die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert auf originell-ironische Weise. Inzwischen wurde dieses vielfach gerühmte Buch von Patrik Ouredník auch ins Deutsche übersetzt. Über dieses Buch, seinen Autor und die Übersetzung hören Sie mehr im heutigen Kultursalon von Martina Zschocke.
"Patrik Ouredníks "Europeana" ist ein literarisches Kunststück, eine Symphonie der Geschichten Europas, ein rasanter historischer Ab- und Aufriss. ... Die Gegenwart des Autors bleibt auf die Sprache selbst konzentriert, die er mit Naivität und Spott garniert. Doch nicht der Autor selbst erweist sich als Zyniker: Mit einem Kunstgriff enthüllt er den Zynismus der Geschichte, die Fata des Menschen als Spielball zwischen Mächten und Trieben." So kommentiert der Czernin-Verlag die gerade erschienene deutsche Ausgabe dieses Werkes. Und tatsächlich reflektiert das Buch auf bestechend individuelle Weise verschiedene Seiten des 20. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts von Weltkriegen, großen politischen Bewegungen, Emotionen, Utopien, philosophischen Ideen, künstlerischen Revolutionen und technischen Neuerungen. Wie es zur deutschen Ausgabe dieses Buches kam, fragte ich Michael Stavaric, Sekretär und Kulturreferent des tschechischen Botschafters in Österreich Jiri Grusa und Übersetzer von "Europeana":
"Ja, es war schon über meine normale Tätigkeit als Kulturbeauftragter und Sekretär von Herrn Grusa. Wir bekommen öfters Anfragen wegen Büchern. Ich betreue Kulturprojekte, also von Symposien bis Tagungen, unter anderem auch Bücher und dadurch, dass ich selber schreibe, habe ich es sehr nahe zum Buch. Und das Buch war einfach mal da. Herr Grusa hatte Herrn Ouredník kennengerlernt bei der Verleihung des Seifert-Preises. Er hat versprochen, irgendwann mal was zu schicken so in der Art. Dann hatten wir die tschechische Ausgabe bzw. eigentlich schon die tschechischen Fahnen mal in der Hand und hatten gemeint, das Buch wird sicher in Tschechien ein Bestseller werden. Es ist dann bei Paseka erschienen und als es in Tschechien sehr gut lief, haben wir gedacht, wir müssen es unbedingt auch in einem deutschsprachigen Markt probieren. Dann habe ich das Buch genommen und versucht einen progressiven Verlag dafür zu finden und mit Czernin ist da wirklich ein guter Partner gefunden worden. Und so ist es irgendwie dann dazu gekommen."
"Europeana" erschien Anfang diesen Jahres in deutscher Ausgabe im Czernin-Verlag Wien. Was nun bewegte den Czernin-Verlag dazu, dieses Werk eines tschechischen, in Paris lebenden, Autors übersetzen zu lassen und in ihr Verlagsprogramm aufzunehmen. Hören Sie dazu Andrea Schaller vom Czernin-Verlag:"
"Wir haben die erste Übersetzung des Buches "Europeana. Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert" - wobei unser Verlag den Untertitel gewählt hat - vorgenommen. Mittlerweile wird das Buch, das in Tschechien Buch des Jahres und Bestseller war, ins Niederländische, ins Französische, ins Slowenische und ins Bulgarische übersetzt. Gespräche gibt es über eine englische Übersetzung. Wir haben uns zur Übersetzung dieses Buches eigentlich sehr spontan und aus dem Bauch heraus entschieden. Wir konnten alle kein Tschechisch und es gab damals nur das tschechische Original und wir haben es der Barbara Coudenhove-Kalergi zu lesen gegeben, die als Grand Dame des österreichischen Journalismus gilt und sie war begeistert nach einigen Seiten. Wir haben das Buch eigentlich in unser Programm aufgenommen, ohne noch eine Zeile gelesen zu haben, weil alle, die es in die Hand bekommen haben, einfach begeistert waren. Es war ein Risiko, aber ich glaube, es hat sich gelohnt."
Dass es sich gelohnt hat, zeigt sich bereits. Das Buch erwies sich auch in der deutschen Ausgabe schon nach kurzer Zeit als Erfolg, obwohl bisher kaum Werbung dafür gemacht wurde. "Europeana" ist kein kurzer historischer Abriss des 20. Jahrhunderts, vielmehr kondensiert Patrik Ouredník Zeit und Raum. Er verdichtet beides derart, dass Absurdität und Banalität, Tragik und Komik überdeutlich zu Tage treten. Indem er Ereignisse und Objekte in Verbindung setzt, die nicht unmittelbar zusammenhängen, gelingt es ihm die Situation und den Zeitgeist verschiedener Phasen des 20. Jahrhunderts zu offenbaren. Die einzelnen Dinge sind mit rasanten Schnitten aneinander gesetzt. Diese kurze und bündige tour de force durch die europäische Geschichte ist amüsierend und beängstigend zugleich. In aller erster Linie ist diese naiv-durchtriebene Geschichtsschreibung in ihrer Schonungslosigkeit und gleichzeitigen Weitsicht frappierend. Die einzelnen Textteile formen sich zu einer Collage der Geschichte und der grundlegenden Bedingungen des Menschseins. Patrik Ouredník analysiert ein gesamtes Jahrhundert, dessen banale Seiten, vorherrschende Ideen und das individuelle Leben einzelner Menschen. Er betrachtet das Es, Ich und Über-Ich des 20. Jahrhunderts ähnlich der Psychoanalyse, die er im übrigen genauso treffend kritisiert wie Faschismus und Kommunismus ... "und so weiter" könnte man jetzt im Stile Ouredníks anfügen. Dieses "und so weiter", das Verwenden von Kapitälchen und die harten Schnitte, die mitunter vom Holocaust zu Barbie springen und von Esperanto zu Internet sind deutliche Charakteristika des lapidar entlarvenden Textes. Der Übersetzer des Buches Michael Stavaric charakterisiert "Europeana" wie folgt:
"Es ist eindeutig ein ironisches Buch und zwar ohne polemisch zu sein. Und ich glaube, das ist eben das große Geheimnis. Es bekommen alle was ab, aber auf eine Art und Weise glaube ich, die sich grundsätzlich gut eignet, um Geschichte aufzuarbeiten. Aufzuarbeiten ist ein zu starkes Wort, um sich der Geschichte bewusst zu werden und um sich dessen bewusst zu werden, was der Mensch ist und wie der Mensch in der Geschichte steht." Ouredník vermischt subjektiven Kommentar, der vor allem im jeweiligen Tonfall des Textes zu Tage tritt, mit objektiven Details und schafft somit eine originell-ironische Melange. Eine Art Glosse zum 20. Jahrhundert. Was an Patrik Ouredník fasziniert ist die Spontaneität seines assoziierenden, wild schweifenden Denkens, auf diese Weise produziert er mehr Klarheit und Pointiertheit, als es jedes chronologische Denkschema vermocht hätte. Wie sich dieses Buch übersetzen ließ, frage ich Michael Stavaric:
"Ich muss ehrlich sagen, mit dem Buch hatte ich kaum Schwierigkeiten. Es gab dann natürlich die normale Feinabstimmung, da arbeitet man ja im Grunde. Aber entscheidend beim Übersetzen ist immer, ob man einen Zugang dazu findet. Gleich von Anfang an, wenn man den ersten Satz übersetzt, dass man das Gefühl hat, im Grunde passt das so. Man muß dann natürlich noch mal damit arbeiten, aber es war erstaunlich leicht, ihn zu übersetzen."
Und war es denn beim Übersetzen überhaupt noch lustig, wenn man es so genau kennt und unmittelbar damit arbeitet?
"Eigentlich ich persönlich hatte das Buch einmal auf Tschechisch gelesen und es dann lange Zeit, obwohl ich dann bereits mit dem Buch gearbeitet habe - jetzt Verlagssuche, Partnersuche etc. - habe ich es dann nicht mehr gelesen und hatte teilweise einiges schon wieder vergessen, weil es wirklich sehr kompakt im Inhalt ist und trotzdem leicht lesbar, was ja das Tolle an dem Buch ist. Deshalb war es beim Übersetzen sehr lustig, die deutschen Entsprechungen dafür zu suchen."
Patrik Ouredník wurde 1957 in der Tschechoslowakei geboren. 1985 emigriert er nach Paris, wo er heute noch lebt. Vor seiner Emigration arbeitet Ouredník u.a. als Buchhändler, Briefträger und Lagerarbeiter. Nach seiner Auswanderung nach Frankreich hält er Vorlesungen zur tschechischen Literatur an den Universitäten Toulouse, Rennes und Carcasson und ist Leiter der Kolumne des Periodikums "L´ Autre Europe". Aus dem Französischen übersetzt er u.a. Rabelais, Queneau, Vian und Simon und aus dem Tschechischen Vladislav Vancura, Bohumil Hrabal, Miroslav Holub und Jiri Grusa. Ouredník publizierte außer "Europeana" auch Bücher wie "Rok ctyriadvacet" ("Das Jahr vierundzwanzig"), "Pojednání o prípadném pití vína" ("Eine Abhandlung über ein mögliches Weingelage"), die Gedichtsammlungen "Anebo" ("Entweder oder") und "Nerkuli" ("Geschweige denn") und vieles andere. Was Patrik Ouredník als Menschen auszeichnet, erzählt sein Übersetzer Michael Stavaric:
"Ja, ich kenne ihn von früher schon. Wir sind in engem Kontakt miteinander. Er ist eine sehr interessante und schillernde Persönlichkeit. Er ist irrsinnig witzig. Zum Beispiel im Mailverkehr mit ihm zu stehen, ist sehr, sehr interessant. Und er ist so wie das Buch eigentlich ist und ich hoffe, wie es in der deutschen Übersetzung auch rüberkommt, ein sehr geistig flinker und mobiler Mensch, der es pointiert auf den Punkt bringen kann."
Der Übersetzer von "Europeana" Michael Stavaric wurde 1972 in Brünn geboren und lebt seit 1979 in Österreich. Seit einigen Jahren ist er Kulturreferent und Sekretär des tschechischen Botschafters in Österreich Jiri Grusa. Michael Stavaric hat selbst zwei Gedichtbände veröffentlicht, wovon einer mit dem Poetry Competition Award 2002 ausgezeichnet wurde. Die Übersetzung von "Europeana" hat ihm nicht nur Spaß gemacht, sondern scheint auch eindeutig gelungen zu sein. Nicht nur sind auf Grundlage dieser Übersetzung weitere Übersetzungen motiviert worden, auch der Autor selbst ist äußerst zufrieden damit. Hören Sie dazu noch einmal Andrea Schaller vom Czernin-Verlag:
"Wobei z.B. die niederländische Ausgabe eine Folge unseres Buches ist, weil die so begeistert waren von dem Buch, dass sie gesagt haben, sie machen das jetzt auch. Und was dazu auch noch zu sagen ist: Ourednik ist von dieser deutschen Übersetzung wirklich begeistert. Die ist passiert in enger Zusammenarbeit mit ihm. Und er ist über manches andere nicht so glücklich. Aber hier war er wirklich angetan."
Auf Deutsch ist "Europeana" im Czernin-Verlag Wien erschienen und kostet 19 Euro. Weitere Informationen dazu finden sie unter www.czernin-verlag.com. Im Herbst wird es zwei "Europeana"-Lesungen in Deutschland geben: am 8. Oktober in der Stadtbibliothek Bonn und am 5. November im Tschechischen Zentrum in Dresden. Wer nicht so lange warten möchte, kann sich Ausschnitte aus dem Buch auch in einer Präsentation des P.E.N.-Clubs am 26.5. im Presseclub Concordia in Wien zu Gemüte führen.
Hören Sie zum Abschluss einen Ausschnitt aus "Europeana":
"Und wenn ein Kommunist einen anderen Kommunisten traf, sagte er etwa WIE GEHT´S BEI EUCH IM BEZIRK MIT DER ERNTE VORAN? Und der andere antwortete WIR BERIEFEN DIE LANDWIRTE ZUM HEURIGEN PLAN EIN oder ENERGISCH NAHMEN WIR UNS DER LETZTEN AUFGABEN AN oder DIE GENOSSEN LEGTEN VERBESSERUNGSVORSCHLÄGE VOR. Zunächst sprach man so vor allem über die Arbeit und über politische Entscheidungen des Staates, aber nach und nach lernten die Leute, auf diese Weise über alles zu sprechen, über das Wetter, über Urlaube, über Rundfunksendungen oder darüber, dass die Ehefrau ein Alkoholproblem habe und nicht mehr zu den Elternversammlungen gehen wolle."
Damit sind wir am Ende unseres heutigen Kultursalons. Es bedankt sich für ihr Interesse Martina Zschocke.