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10) Patrik Ouředník: „Europeana“

Foto: Radio Praga Int.
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„Europeana: Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“ ist ein Bestseller des tschechisch-französischen Schriftstellers Patrik Ouředník. In einer Collage aus großen Ereignissen, kleinen Details, Hoffnungen und Traumata der europäischen Gemeinschaft reflektiert er die Geschichte des Alten Kontinents. Das schmale Buch ist das meistübersetzte Werk der tschechischen Literatur nach 1989.

Foto: Radio Praga Int.

„Die Historiker hielten fest, dass im zwanzigsten Jahrhundert weltweit etwa sechzig Genozide stattgefunden hätten, aber nicht alle wurden Bestandteil des historischen Gedächtnisses. Die Historiker sagten, das historische Gedächtnis (...) sei aus der historischen Sphäre in eine psychologische übergegangen, und dies habe eine neue Form von Erinnerung hervorgerufen, bei der es nicht mehr um die Erinnerung an ein Geschehen gehe, sondern um eine Erinnerung der Erinnerung.“
(übersetzt von Michael Stavarič, Czernin-Verlag 2003)

Und mit dieser Erinnerung, genauer gesagt mit dem kollektiven Gedächtnis der Europäer, beschäftigen sich die „Europeana“ des Schriftstellers, Essayisten und Übersetzers Patrik Ouředník. Dabei führt ein unbeteiligter Erzähler durch die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Dafür reichen ihm etwas mehr als hundert Seiten. Das alles geschieht in einem Stil, der an die Methode des freien Assoziierens erinnert. Historische Meilensteine werden mit nebensächlichen Informationen und Anekdoten verwoben, als wären sie alle gleich wichtig.

Der in Wien lebende deutschsprachige Autor tschechischer Herkunft Michael Stavarič hat das Buch 2003 ins Deutsche übersetzt. Und nach wie vor ist er von den „Europeana“ begeistert:

Patrik Ouředník  (Foto: Tomáš Vodňanský,  ČRo)

„Das Wunderbare an diesem Buch ist, dass es eigentlich alles ist und sich keinem Genre zuschreiben lässt. Es ist für mich ein Geschichtsbuch, es ist Belletristik, ein sprachliches Experiment, eine Litanei, eine narrative Prosa. Es ist auch eine große Collage, eine große Persiflage auf die europäischen Gesellschaften, auf die Geschichte des Kommunismus und des Nationalsozialismus. Im Grunde taucht ja nicht nur Europa darin auf, sondern die ganze Welt. Dass das jemand so schreiben kann, habe ich noch nirgendwo sonst erlebt. Deswegen finde ich nach wie vor: Die ‚Europeana‘ sind ein Meisterwerk nicht nur der tschechischen, sondern der gesamten europäischen Literatur.“

Experiment, Collage, Persiflage

Michael Stavarič  (Foto: Manfred Werner,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Patrik Ouředník schildert die turbulente Epoche in erfinderischer Sprache und ohne Rücksicht auf die Chronologie. Das Buch beginnt in der Mitte des 20. Jahrhunderts – mit dem Jahr 1944 und der durchschnittlichen Körpergröße US-amerikanischer Soldaten, die in der Normandie ums Leben kamen. Von diesem Bild kehrt man in den Ersten Weltkrieg zurück, auf den das Jahr 2000 folgt, in dem das Weltende erwartet wird. Der distanzierte und unbeteiligte Erzähler springt von einem wichtigen Ereignis der europäischen Geschichte zum nächsten und durchleuchtet alle bis in die dunkelsten Winkel. Michael Stavarič:

„Es ist eine ironische Kritik am 20. Jahrhundert. Man kann sie durchaus auch als Mahnung verstehen. Wir sind mittlerweile im 21. Jahrhundert, und ich glaube, das Buch ist aktueller denn je, wenn wir uns den Zustand Europas ansehen, die diversen nationalen Strebungen in den Ländern. Wir steuern ja im Grunde weg von der Demokratie und weg von einer gemeinsamen europäischen Idee eben hin zur Nationalstaatlichkeit und zu populistischen Politikern, die überall austreten und ihre eigene kleine Welt schaffen wollen. Das heißt, wir sind nach wie vor sehr gefährdet, in diese alten Strukturen und Mechanismen zurückzufallen, von denen die ‚Europeana‘ eigentlich berichten.“

Ironische Kritik und Mahnung

Dass man das Buch als Mahnung verstehen könne, sei etwas sehr Wichtiges, sagt Stavarič. Der Leser werde immer wieder um eine Selbstreflexion gebeten:

Foto: Czernin-Verlag
„Während man liest und auf diese diversen Details stößt wie die Größe der gefallenen Soldaten oder diese Episode mit der Barbie-Puppe, muss man sich als Leser immer fragen: ‚Stimmt das alles genauso? War die Körpergröße wirklich genau der Durchschnitt, den Ouředník hier vorschlägt?‘ Es lädt auch zu einer kleinen Recherche ein, bei der man selbst Fakten überprüfen muss, weil man einfach nicht alles sofort glauben kann.“

Beim Lesen ist die Lust am Spiel bemerkbar, am Spiel mit der Sprache, mit den Motiven und Ideen. Indem Ouředník das Bedeutende und das Banale gegenüberstellt, erzeugt er ein Spannungsfeld. Etwa wenn es um die Erfindung des Büstenhalters und um Frauenrechte geht, um Sexualität und Religion, Eugenik und Euthanasie, das Internet und die Barbie-Puppe, Krankheiten und Medizin, um Kriege und die New-Age-Bewegung. Dabei setzt der Autor alles in den historischen Kontext.

„Europeana: Eine kurze Geschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert“ wurde an der Schwelle des neuen Jahrtausends verfasst. Das Werk wurde zum „Buch des Jahres 2001“ in Tschechien gekürt. Später wurde es mit Übertragungen in über 30 Fremdsprachen zum meistübersetzten Buch der tschechischen Literatur nach 1989 überhaupt. Am Anfang dieses Wegs in die Welt stand eben die Herausgabe auf Deutsch. Michael Stavarič hat sich 2003 dafür persönlich eingesetzt:

„Zunächst einmal war dies damals sehr wichtig, weil ja irgendwann die EU-Osterweiterung bevorstand. Ich war damals als Sekretär von Jiří Gruša in der tschechischen Botschaft in Wien angestellt. Und Gruša hat mir persönlich Patrik Ouředník vorgestellt. Ich war von dem Buch begeistert. Ich sah, was für ein großartiges Potential darin steckt, letztlich die gesamte Geschichte Europas in einer Art und Weise allen europäischen Nationen näherzubringen, als es jedes Geschichtsbuch vermag. Und das alles noch sehr kurz und kompakt, denn die ‚Europeana‘ sind / ist kein sonderlich dickes Buch. Da habe ich mir gedacht: Ich muss es unbedingt ins Deutsche übersetzen und einen Verlag finden, der das macht. Das gelang dann zum Glück in Wien. Und dort ist jetzt sogar vor einem Jahr eine Neuauflage in einer neuen Gestaltung erschienen. Es gibt also zweimal eine deutsche Fassung der ‚Europeana‘, was mich ganz besonders freut.“

Übersetzungen und Inszenierungen

Das Buch wurde inzwischen nicht nur in vielen Sprachen herausgegeben, sondern auch bearbeitet. Die Theaterdramaturgin Dora Viceníková hat es 2013 in eine Bühnenform übertragen und in Brno / Brünn aufgeführt. Gegenüber Radio Prag International sagte sie:

Dora Viceníková  (Foto: Tomáš Vodňanský,  ČRo)
„Der erste Impuls war, dass es eines meiner Lieblingsbücher ist. Und zweitens ist es außerordentlich bildhaft, die Themen darin wechseln sehr abrupt. Mir schien es ein gutes Material für einen ironischen Rückblick auf den Menschen und dessen Geschichte. Mir gefällt, dass sich Ouředník allgemein bekannte Fakten nimmt und aus einer äußerst individuellen Perspektive darstellt. Mich fasziniert, wenn man etwas allgemein Bekanntes in einem anderen Licht zeigt.“

Viceníková hat bei der Dramatisierung den monologischen Text nicht verändert. Begleitende Bühnenbilder kommentieren stattdessen die starken und kompakten Textauszüge. Die Theaterdramaturgin war jedoch überrascht, dass sie nicht die einzige war, die das Buch auf die Bühne bringen wollte:

„Ich habe damals Patrik Ouředník kontaktiert. Er sagte mir, ich sei nicht die erste, sondern es habe bereits etwa 20 Versuche einer Inszenierung gegeben. Bei den meisten handelte es sich um Lesungen, bei denen sich auf die Stärke des Textes verlassen wurde. Nach unserer Premiere sagte Patrik Ouředník, dies sei die spektakulärste Bühnengestaltung seines Buches, die er gesehen habe.“

Die Inszenierung wird seit 2013 bis heute gespielt und wurde weltweit gezeigt. 2018 entstand zudem ein französischer Dokumentarfilm von Arnaud de Mezamat, der Textauszüge mit Archivbildern, zeitgenössischen Aufnahmen, fiktiven Szenen sowie unterschiedlichen visuellen und klanglichen Spielereien verbindet.

Patrik Ouředník wurde 1957 in der Tschechoslowakei geboren. 1984 emigrierte er nach Paris, wo er heute noch lebt. Vor seiner Emigration arbeitete er unter anderem als Buchhändler, Briefträger und Lagerarbeiter. Nach seiner Auswanderung hielt er an mehreren Universitäten in Frankeich Vorlesungen zu tschechischer Literatur. Er ist als Autor, Übersetzer und Publizist tätig. Seine literarischen Texte sind von Sprachexperimenten und Kuriositäten geprägt, er bündelt diese in den unterschiedlichsten literarischen Genres und Formen. Vier seiner Bücher sind bisher auf Deutsch in der Übersetzung von Michael Stavarič erschienen. Neben „Europena“ noch das kurze Prosabuch „Rok čtyřiadvacet“ („Das Jahr vierundzwanzig"), der Roman „Příhodná chvíle“ („Die Gunst der Stunde“) und die Gedichtsammlung „Dům bosého“ („Haus des Barfüßigen“). Patrik Ouředník inspiriere ihn selbst auch beim eigenen Schreiben, gesteht Michael Stavarič:

„Absolut. Patrik Ouředník, mit dem ich in Korrespondenz stehe, ist der Autor, den ich am liebsten übersetze. Ich habe auch die Lyrik-Bände von ihm übersetzt oder ‚Die Gunst der Stunde‘ – ein großartiger Roman ist. Alles von ihm finde ich absolut lesenswert. Er zählt zu Recht zum Kanon der gesamteuropäischen Literatur. Für mich persönlich, der ja auch selbst schreibt, publiziert und freiberuflich Schriftsteller ist, war Patrik Ouředník eine sehr große Inspirationsquelle. Ich habe 2007, nachdem ich die ‚Europeana‘ übersetzt hatte und die EU-Osterweiterung tatsächlich erfolgte, für einen deutschen Verlag ein Buch namens ‚Europa, Eine Litanei‘ geschrieben. Ich habe mich darin genau des Duktus bedient, den ich von Ouředník her kannte. Ich habe mich jetzt nicht den Kommunisten und Nationalsozialisten gewidmet, sondern mehr den einzelnen europäischen Nationen und Amerika, also etwas globaler gedacht. Das wäre niemals entstanden, hätte ich das Buch ‚Europeana‘ damals nicht gelesen und hätte ich Patrik nicht gekannt. Also ja, Patrik Ouředník ist auch für mich als Schriftsteller eine immens wichtige Person gewesen und geblieben, und er ist es auch weiterhin.“

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