Lange bevor er Politiker wurde, war Václav Havel als Bühnenautor tätig und bekannt. Zu Havels berühmtesten Werken gehören unter anderem „Das Gartenfest“, „Die Benachrichtigung“, die sogenannte Vaněk-Trilogie oder das Drama „Largo Desolato“. Radio Prag International hat mit der Bohemistin und Geschäftsführerin des Adalbert Stifter Vereins, Zuzana Jürgens, über das Theaterschaffen von Václav Havel gesprochen.
Ich habe mein ganzes Leben lang Stücke geschrieben, die die Frage nach dem Sinn stellen, indem ein Unsinn geäußert wird. Die Stücke geben keine Hoffnung, sie weisen auf keine Lösungen auf, sie bieten keine Sicherheiten. Sie beschreiben den Stand eines Menschen, der Sicherheiten verliert, der Hoffnung verliert, der seine eigene Identität verliert. Mit diesem Inhalt sollten die Stücke ein Appell an den Zuschauer sein. Der Zuschauer ist aufgefordert, im Angesicht des gezeigten Unsinns den Sinn in sich selbst zu suchen.
(Václav Havel für den Tschechischen Rundfunk, 2016)
Václav Havel hat in seinem Leben mehrere Rollen gespielt, er war Dramatiker, Bürger und Dissident und schließlich Politiker und Staatsoberhaupt. Frau Jürgens, wie schätzen Sie seine Bedeutung für das tschechische und das europäische Theater ein?
„Václav Havel gehört zweifellos zu den hervorragendsten Dramatikern des 20. Jahrhunderts, nicht nur in Tschechien, sondern auch in Europa. Nachdem er Staatspräsident geworden war, hat er bekanntlich so gut wie keine Theaterstücke mehr geschrieben. Sein letztes Drama ‚Der Abgang’ ist aus dem Jahr 2007, das heißt, sein Gesamtwerk entstand tatsächlich im 20. Jahrhundert, und da gehört er zu den klassischen Autoren des absurden Theaters.“
Wie würden Sie das Hauptthema seiner Dramen charakterisieren? Ein Konflikt zwischen dem menschlichen Individuum und dem System steht in Havels Stücken oft im Fokus. In wie weit war seine Erfahrung mit dem totalitären Regime in der Tschechoslowakei von Bedeutung?
„Diese Sprache, die nicht mehr funktioniert, ist eines seiner wichtigen Themen. Ein weiteres ist die Frage nach der Identität beziehungsweise nach der Authentizität des Menschen.“
„Ich denke, dass diese persönliche Erfahrung auch eine wichtige Rolle spielt, im Hintergrund. Aber nicht nur das. Es ist nicht nur die Erfahrung mit dem bürokratischen System, das das menschliche Individuum biegt oder es zumindest versucht. Es ist natürlich auch der Kontext der Literatur oder des tschechischen Theaters. Er steht nicht alleine da, sondern knüpft an die Poetik an, die bereits in der Zwischenkriegszeit angedeutet wurden. Das System ist das eine. Das andere ist die Erfahrung mit der Sprache, die letztlich – eben in diesem totalitären System – aufhört, ein Kommunikationsmittel zu sein, und zu einer Phrase wird. Diese Sprache, die nicht mehr funktioniert, ist eines seiner wichtigen Themen. Ein weiteres Thema ist die Frage nach der Identität beziehungsweise nach der Authentizität des Menschen. Wie bewahrt man seine persönliche Integrität in der Konfrontation mit der Macht oder mit den anderen, die versuchen, sich anzupassen? Die Texte von Václav Havel, nicht nur die Theaterstücke sondern auch die Essays und politischen Reden verbindet ein roter Faden, nämlich die menschliche Identität, oder das, was er an vielen Orten als ‚Leben in der Wahrheit‘ benannte.“
Václav Havel hat etwa 20 Theaterstücke geschrieben. Lassen sich in seinem Schaffen gewisse Perioden erkennen?
„Bestimmt. Die erste Periode sind die 1960er Jahre. In dieser Zeit wurde er zum Autor des absurden Theaters. Im Vordergrund stand die Konfrontation mit der Macht, mit dem System, das versucht, ein Individuum anzupassen beziehungsweise gleichzuschalten. Aus dieser Zeit stammt das Theaterstück ‚Die Benachrichtigung‘ (Vyrozumění) mit seiner künstlichen Sprache ‚Ptydepe‘. In den 60er Jahren waren seine Theaterstücke nicht wirklich autobiographisch, das änderte sich aber in den 70er und 80er Jahren. Von dieser Zeit kann man seine Einakter-Trilogie ‚Die Audienz‘ (Audience), ‚Die Vernissage‘ (Vernisáž) und ‚Protest‘ (Protest) nennen, in der eine Art Alter-Ego von Havel, Ferdinand Vaněk, die Hauptfigur ist. Da erkennt man die autobiographischen Züge, also eine Person, die zum Outsider in der Gesellschaft wird, eigentlich ein Dissident. Jemand, der versucht, seine Integrität zu bewahren. Er darf seinen Beruf nicht ausüben und wird dadurch für die anderen unbequem, weil er ein Spiegel ist. In den 80er Jahren ist mit ‚Largo Desolato‘ ein Theaterstück entstanden, das nach wie vor eine persönliche Erfahrung widerspiegelt, aber viel stärker existenzielle Fragen stellt. Und ‚Der Abgang‘ ist eine Krönung des Werks, wo man vieles von früher erkennt. Dieses Theaterstück steht am Ende seines Lebens: Auch wenn es lustig ist, ist die Aussage eigentlich sehr bitter. Es gibt da eine große Desillusionierung über die Welt, in der man heutzutage lebt.“
Václav Havel gilt als einer der Autoren des absurden Theaters. Welche sind die Instrumente der absurden Dramatik, die er nutzte?
„Alles, was sich in der Privatsphäre abspielt, hat auch eine allgemeine Reichweite hat. Das absurde Theater demaskiert das Böse in einem breiten Kontext.“
„Das absurde Theater arbeitet mit der Sprache, mit Wiederholungen, mit dem, wie die Sprache nicht funktioniert. Im Mittelpunkt steht die Erfahrung eines Menschen, der nach seiner Existenz und seiner Identität fragt, die er als sinnlos empfindet. Das absurde Theater hat die Verfahrensweisen des traditionellen Theaters mehr oder weniger aufgehoben: es gibt keine Handlung, die sich entfaltet, die Personen sind oft Typen oder Prototypen, und es gibt auch wenig Psychologie. Ich würde zu diesem gerne den Theaterwissenschaftler und Regisseur Jan Grossman zitieren, der ein Wegbegleiter von Václav Havel war. Im Nachwort zum ‚Gartenfest‘ stellt er fest: ‚Das absurde Theater wendet sich von äußerlich großen Handlungen zu alltäglichen, quasi episodischen Geschichten. Aber diese Abwendung, wie es die besten Werke dieser Richtung zeigen, bedeutet keine Flucht von einer allgemeinen zur privaten Problematik, sondern im Gegenteil eine konzentrierte Bemühung zu beweisen, dass alles, was sich in der Privatsphäre abspielt, auch eine allgemeine Reichweite hat. So demaskiert das absurde Theater das Böse in einem breiten Kontext. Das Böse, das umso gefährlicher ist, weil es gewöhnlicher wurde. Es dringt in die Welt ohne Warnung und unauffällig und arbeitet mit Mitteln, die auf den ersten Blick bedeutungslos sind: Schablone, Phrase, Konventionen oder Dogma. Das absurde Theater ist analytisch, und wenn man so will, es diagnostiziert kalt und bietet grundsätzlich keine Lösungen. Es verlässt eine Konzeption des Theaters, das die Welt illustriert, erklärt oder kritisiert. Das absurde Theater will schockieren und provokante Fragen stellen. Es nimmt die Funktion eines Advocatus Diaboli, es stellt sich auf die Seite des Teufels, womit der Teufel, der sich versteckt hatte, enttarnt wird.‘"
Sie haben jetzt Jan Grossman zitiert. Dieser Theaterregisseur hat viele Stücke von Havel auf die Bühne gebracht, und zwar im „Theater am Geländer“ (Divadlo Na zábradlí) in Prag. Wie war es mit den Inszenierungen von Václav Havels Stücken in den deutschsprachigen Ländern? Ist er dort ein bekannter Autor?
„Ich glaube, heutzutage ist es nicht mehr so. Aber in den Siebzigern und in den Achtzigern schon. Dank der Tatsache, dass er bereits in den 1960er Jahren ein sehr bekannter Autor war und viel gespielt wurde, damals noch reisen durfte und diese Kontakte knüpfen konnte. Er hatte seinen Agenten Klaus Juncker in Hamburg. Sein Theaterhaus war das Burgtheater in Wien, dort wurden eigentlich alle seine Stücke in deutscher Sprache aufgeführt. Es gilt auch für den Theaterbereich, dass die deutsche Sprache so eine Art Tor in die Welt ist. Das ist auch bei Havel der Fall gewesen.“
„Seine Themen sind heute vielleicht noch mehr aktuell, weil wir den äußeren Rahmen, den es damals gab, heute nicht mehr haben, diese klare Situation einer totalitären Macht.“
Glauben Sie, dass Havels Theaterstücke heute noch das Publikum ansprechen können?
„Ich denke schon, auch wenn es nicht mehr so ist, dass man jedes Jahr im deutschsprachigen Raum ein Theater findet, das Havel spielt. Aber ich bin davon eigentlich überzeugt. All die Themen, denen er sich widmet, sind heute vielleicht noch mehr aktuell, weil wir diesen äußeren Rahmen, den es damals gab, heute nicht mehr haben, diese klare Situation einer totalitären Macht. Aber die Gefahren für den Menschen und seine Integrität, bestehen – glaube ich – nach wie vor.“