Jaroslav Seifert veröffentlichte zwischen 1921 und 1983 insgesamt 30 Gedichtbände. In seinem Werk experimentierte er immer wieder mit verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten – und widmete sich einer Fülle an Themen. Sein Schaffen reicht von proletarischer Poesie und verspieltem Poetismus, über Reflexionen zu historischen und nationalen Themen, bis hin zur intimen und existentiellen Lyrik. Für die Leser in seiner Heimat gehört Jaroslav Seifert zu den beliebtesten Dichtern. Und bis heute ist er der einzige Tscheche, der den Literatur-Nobelpreis erhalten hat.
„Was Seifert unter den Dichtern seiner und der jüngeren Generation eindeutig kennzeichnet, ist seine Betrachtung der Poesie. Er verstand die Poesie als etwas, das einem alltäglichen Gespräch gleichen kann, als etwas, das aus der Höhe heruntergeholt werden kann, etwas Geläufiges, Selbstverständliches und Natürliches.“
Soweit der Literaturhistoriker Jiří Flaišman. Er hat sich an der Gesamtausgabe von Jaroslav Seifert in 15 Bänden beteiligt, die im Verlag „Akropolis“ zwischen 2001 und 2015 erschienen ist. Und vor sechs Jahren stellte er eine Anthologie von 13 Texten mit Reflexionen über Seifert und dessen Schaffen zusammen. Gegenüber den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagte Flaišman:
„Seifert war ein Dichter, der eine große persönliche Entwicklung durchgemacht hat. In seiner Poetik ging er über viele Etappen. Vier von ihnen lassen sich in Seiferts Karriere als Dichter als wichtig bezeichnen. Man könnte sogar sagen, dass es vier unterschiedliche Seiferts gibt.“
Avantgarde, Patriotismus, intime Lyrik
Jaroslav Seifert wurde 1901 im Prager Arbeiterviertel Žižkov geboren. In den 1920er Jahren zählte er zu den wichtigsten Vertretern der literarischen Avantgarde. Konkret 1920 schrieb Jaroslav Seifert sein Erstlingswerk „Město v slzách“ („Die Stadt in Tränen“) im Stil der engagierten proletarischen Kunst, und er wurde Mitbegründer und Sprecher der Avantgardegruppe Devětsil. Der Gedichtband „Na vlnách TSF“ („Auf den Wellen von TSF“, 1925) war ein lyrisches Tagebuch seiner Reise nach Frankreich, in dem er im Stil des tschechischen Poetismus die moderne Zivilisation besang. Gleichzeitig arbeitete er als Redakteur für mehrere linksorientierte Blätter. 1929 wurde er aber aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, weil er es gewagt hatte, den neuen Führungsstil unter Klement Gottwald zu kritisieren.
Nach dem Münchener Abkommen im Jahr 1938 tat er im Gedichtband „Zhasněte světla“ („Löscht die Lichter“) seine Angst um das Schicksal seines Landes kund. Anschließend schrieb er Gedichte gegen die Besetzung der Tschechoslowakei („Světlem oděná“ / „In Licht gekleidet“, 1940) durch Hitler. Mit lyrischen Versen voller Patriotismus reagierte Seifert auf die düstere Zeit im Zweiten Weltkrieg.
Regimekritiker
Nach 1948 kritisierte Seifert immer wieder das kommunistische Regime und erhielt mehrmals Publikationsverbot. Von großer Bedeutung in der tschechoslowakischen Nachkriegsgeschichte war der Zweite Schriftstellerkongress im Jahr 1956. Dieser sollte die kommunistische Herrschaft im Lande und ihre Kultur bestätigen. Dank einigen mutigen Schriftstellern entwickelte sich der Kongress aber zu einer Plattform, auf der zum ersten Mal seit der Machtübernahme durch die Kommunisten Kritik an der totalitären Kulturpolitik erklang. Seifert betonte in seiner Rede ausdrücklich die Verantwortung der Schriftsteller in der Gesellschaft. Er bezeichnete sie als „das Gewissen ihrer Nation“. Die oberste Maxime für einen Schriftsteller sei es, die Wahrheit zu schreiben. In den vorangegangenen Jahren sei das aber häufig nicht der Fall gewesen, kritisierte Seifert damals:
„Wieder und wieder haben wir hier aus den Mündern von keineswegs Bedeutungslosen gehört, es sei wichtig, dass der Schriftsteller die Wahrheit schreibt. Das heißt für mich, dass die Schriftsteller der vergangenen Jahre nicht die Wahrheit geschrieben haben. Haben sie die Wahrheit geschrieben oder nicht? Freiwillig oder unfreiwillig? Bereitwillig oder unwillig? Ohne Begeisterung oder mit inniger Zustimmung? Wenn jeder andere die Wahrheit verschweigt, so kann das ein taktisches Manöver sein. Wenn aber der Schriftsteller die Wahrheit verschweigt, dann lügt er!“
In den liberalen 1960er Jahren kam Seifert zu offiziellen Ehren, erhielt den Titel „Nationalkünstler“ und übernahm im Jahr 1969 aufgrund seiner mutigen Haltung den Vorsitz des neu gegründeten Verbandes tschechischer Schriftsteller. Allerdings wurde der Verband schon im darauffolgenden Jahr aufgelöst, da er die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes scharf verurteilte. Jaroslav Seifert musste sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Zehn Jahre lang durfte er in seinem Heimatland keine neuen Werke mehr publizieren. Sein Gedichtband „Morový sloup“ („Die Pestsäule“) erschien zunächst im Samisdat, später im Exil. In den 1970er Jahren arbeitete Jaroslav Seifert in der Oppositionsbewegung und gehörte zu den ersten Unterzeichnern der Charta 77. In seinem belletristischen Erinnerungsbuch „Všecky krásy světa“ (auf Deutsch „Alle Schönheit dieser Welt“) blickte er auf das Leben in seiner geliebten Heimatstadt Prag zurück. Dabei bot der Dichter ein liebevolles und ironisch-poetisches Mosaik von Begegnungen mit Freunden, Zeugnissen und Momenten seines Lebens.
Nobelpreis für Literatur 1984
„Für seine Dichtung, die mit frischer Sinnlichkeit und reicher Erfindungsgabe ein befreiendes Bild menschlicher Unbeugsamkeit und Vielfalt gibt“ – mit diesen Worten begründete die „Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften“ die Vergabe des Nobelpreises für Literatur an Jaroslav Seifert. Der Dichter wurde 1984 als bisher einziger tschechischer Autor mit dieser Auszeichnung bedacht. Eine große Feier zu seinen Ehren blieb allerdings aus. Für die Partei- und Staatsführung war die Auszeichnung des Regimekritikers höchst unangenehm. Am 12. Oktober 1984 wurde in der Zeitung „Rudé právo“ nur eine kurze Meldung veröffentlicht:
„Nach Mitteilung von Presseagenturen aus Stockholm wurde am Donnerstag der Nobelpreis für Literatur für das Jahr 1984 dem Nationalkünstler Jaroslav Seifert zuerkannt. Jaroslav Seifert, der zurzeit im Krankenhaus stationär behandelt wird, wurde aus Anlass dieser Ehrung vom Verdienten Künstler Jan Pilař, Direktor des Verlags Čs. spisovatel, im Namen des Schriftstellerverbandes beglückwünscht.“
Jaroslav Seifert lag damals schwer krank im Prager Uniklinikum am Karlsplatz. Dort konnte damals ein Redakteur des Tschechoslowakischen Rundfunks kurz mit dem Dichter sprechen. Auf die Frage, mit welchen Gefühlen er die Nachricht über den Nobelpreis entgegengenommen hatte, sagte Seifert:
„Ich war vor allem überrascht, versteht sich. Ich hatte es überhaupt nicht erwartet. Ich hatte natürlich große Freude. Wer würde sich nicht freuen?“
Und ob er in diesem Moment an eines seiner Gedichte denke?
„Ich denke an die Dichter, die diese Ehrung auch verdient hätten – Hora, Nezval, Halas und Holan.“ Jaroslav Seifert konnte am 10. Dezember 1984 den Nobelpreis nicht persönlich in Stockholm aus den Händen des schwedischen Königs übernehmen. Seine Kinder – Sohn Jaroslav und Tochter Jana – vertraten ihn aber bei der Zeremonie. 1986 starb Jaroslav Seifert im Alter von 84 Jahren in Prag – drei Jahre nachdem sein letzter Gedichtband „Býti básníkem“ (auf Deutsch „Gewitter der Welt“) als eine Art Lebensbilanz erschienen war. Die Trauerfeier, an der tausende Menschen teilnahmen, fand – unter strenger Aufsicht der Staatssicherheit – im Rudolfinum und im Prager Stadtteil Břevnov statt.