Urvater Tschech und die Besiedlung Böhmens
Der 28. Oktober ist der tschechische Staatsfeiertag. An jenem Tag wurde im Jahre 1918 die Tschechoslowakei gegründet. Knapp 400 Jahre lang waren die Tschechen Untertanen des Habsburger Kaisers gewesen, doch davor existierte bereits ein unabhängiger böhmischer Staat. Thema des heutigen Kapitels aus der tschechischen Geschichte ist nicht die Gründung jener demokratischen Republik vor nun mehr 85 Jahren, sondern die ersten Anfänge dieses böhmischen Staates vor rund 1400 Jahren. Aus jener Zeit existieren zwar keine schriftlichen Quellen, auch die archäologischen Funde sind spärlich, dafür gibt es umso mehr Vermutungen und Sagen.
Als im 19. Jahrhundert das Nationalbewusstsein der Tschechen wiedererwachte, nahmen die Auseinandersetzungen zwischen den tschechischen und deutschen Bewohnern der Böhmischen Länder zu. Unter anderem stritt man sich auch darüber, wer denn nun zuerst Böhmen besiedelt hat - Slawen oder Germanen. Jeder wollte Recht haben und so suchte man nach Argumenten. Die Tschechen beriefen sich auf die erste tschechische Chronik aus dem 12. Jahrhundert. Ihr Verfasser Cosmas schildert in dieser die erste slawische Besiedlung des späteren Böhmen. Diese in Latein verfasste Chronik diente dem Schriftsteller Alois Jirasek als Vorbild für sein Buch "Alttschechische Sagen", das Ende des 19. Jahrhunderts erschien. Das Buch wurde zum Bestseller und auch heute kennt es wohl jedes tschechische Schulkind. Mit Sicherheit haben die Sagen das Geschichtsbild einiger Generationen von Tschechen beeinflusst.
Der Sage über die Besiedlung der Böhmischen Länder zufolge irrte ein gewisser "praotec Cech" - Urvater Tschech mit seinem Gefolge von Osten kommend durch die Landschaften, um eine neue Heimat zu finden. Man suchte eine fruchtbare, von niemand bewohnte Gegend. Urvater Tschech überquerte mit seinem Gefolge die Oder, die Elbe und schließlich die Moldau. Hier erblickten sie den einsam aus der Ebene herausragenden Berg Rip, ca. 30 km nördlich des heutigen Prag gelegen. Urvater Tschech bestieg den Berg und beim Anblick der großen Ebene zu seinen Füssen hielt er eine der berühmtesten Reden tschechischer Herrscher:
"Seht, das ist das Land, das wir gesucht haben. So oft habe ich euch versprochen, dass ich euch hierher führen werde. Hier ist das versprochene Land, voll Wild und Vögel, in dem süßer Honig und Milch in Überfluss sind. Hier werdet ihr ohne Mangel leben und eine gute Verteidigung gegen Feinde finden."
Und als Urvater Tschech sein Gefolge fragte, wie den diese neue Heimat heißen solle, riefen diese: wie du - und so kam Tschechien zu seinem Namen. Soweit die Sage von Alois Jirasek.
Auch wenn diese Sage auf der im 12. Jahrhundert verfassten Chronik des Cosmas beruht, beinhaltet sie doch einige historische Fehler, was aber gern übersehen wurde.
Das erste Problem ist darin zu sehen, dass Cosmas seine Chronik in Latein verfasste. In dieser hieß der Urvater aller Tschechen allerdings nicht Èech, sondern Bohem. Und seine Anhänger nannten das Land ihm zu Ehren nicht Èesko, wie es Alois Jirasek in seiner Sage so schön erklärt hatte, sondern Bohemia. Ein Ausdruck, der bis heute nicht im Tschechischen existiert.
Auch kam jener Urvater Bohem nicht in ein völlig leeres und unbesiedeltes Land. Lange vor dem Einzug der Tschechen bzw. Slawen, der wahrscheinlich im 5. Jahrhundert nach Christus erfolgte, siedelten hier Kelten. Der keltische Stamm der Bojer verließ die Gegend im 1. Jahrhundert nach Christus, doch sein Name blieb - das von ihm einst besiedelte Gebiet hieß von nun an Bohemia.
Nach den Kelten kamen die Germanen, genauer gesagt die Markomahnen. Diese verließen im Verlauf der großen Völkerwanderung im 5. bis 6. Jahrhundert Böhmen und nun erst kamen die Slawen. Aus den spärlichen archäologischen Funden jener Zeit geht hervor, dass Slawen und Germanen wohl eine Zeitlang nebeneinander bzw. zusammen lebten. Einige geographische Bezeichnungen im Tschechischen haben keltische bzw. germanische Wurzeln.Etwas Wahres ist natürlich an der Sage über jenen Urvater Tschech bzw. Bohem dran, denn im 6. Jahrhundert tauchten tatsächlich die ersten Slawen in der Gegend des Rip auf. Noch einige Jahrhunderte später war der Berg Rip der geographische Mittelpunkt des Herrschaftsgebiets der ersten böhmischen Fürsten. Cosmas erwähnte in seiner Chronik nicht den Ursprung jenes Volkes, das sich hier niederließ. In seiner Version erfolgte der Einzug von Urvater Tschech irgendwann nach der biblischen Sintflut. Einer seiner Nachfolger jedoch, Dalimil, wird in seiner im 15. Jahrhundert verfassten Chronik konkreter. Ihm zufolge stammt der berühmte Urvater aus Kroatien. Aus diesem musste er allerdings mit seinen Anhängern fliehen, nachdem er einen Mord verübt hatte - kein rühmliche Tat für einen Nationsgründer. Doch dank jener Flucht erreichte Tschech den Berg Rip und legte die Grundlage des heutigen Tschechien.
Ein weiterer Chronist, Vaclav Hajek z Libocan wurde in seiner Geschichte Böhmens im 15. Jahrhundert noch konkreter und beschrieb auch den Tod und das Begräbnis jenes sagenhaften Urvaters. Damit löste er im 19. Jahrhundert ein wahres Suchfieber aus - alle wollten jenes Grab des ersten Staatsgründers entdeckten - und so manchem gelang dies auch...Doch nicht nur böhmische Chronisten befassten sich mit der Besiedlung des Landes. Die ältesten schriftlichen Quellen, die Böhmen betreffen, sind Berichte arabischer Händler bzw. Chroniken fränkischer Klöster. Die erste Quelle, in der Slawen erwähnt werden, stammt aus dem Jahre 510. Zuvor waren die Slawen ein Volk das weit entfernt, irgendwo in der asiatischen Steppe lebte und von dem man im fernen Europa keine Ahnung hatte.
Dies änderte sich während der großen Völkerwanderung. Auf der Flucht vor den Hunnen erreichten slawische Stämme Europa und besiedelten zu Beginn des 6. Jahrhunderts den mitteleuropäischen Raum von der Ostsee bis zur Adria. Im 7. Jahrhundert erfolgte eine zweite Einwanderungswelle der Slawen. Diesmal kamen sie im Gefolge des kriegerischen Reitervolkes der Awaren. Deren Herrschaftsgebiet lag in der Gegend des heutigen Ungarns und von hier ist wahrscheinlich auch ein realer Urvater Tschech mit seinen Anhängern gen Westen gezogen.
Interessant ist, dass auch im Kroatischen eine ähnliche Legende existiert. Der zufolge musste ein gewisser Urvater Charvat aus Böhmen fliehen. Er kam mit seinen Anhängern in eine fruchtbare Gegend, wo man sich niederließ und Charvatsko - Kroatien gründete. Heutige Historiker gehen davon aus, dass beide Sagen bereits vor dem 10. Jahrhundert entstanden sind. Wahrscheinlich stammen sie aus jener Zeit, als die Slawen in der Gegend des heutigen Ungarn siedelten. Während ein Urvater Tschech Richtung Nordwesten zog, machte sich ein Urvater Charvat nach Südwesten auf.Nun sollte man sich jedoch nicht vorstellen, dass lediglich ein slawischer Stamm im 6. oder 7. Jahrhundert Böhmen besiedelte. Sicherlich kamen verschiedenste Sippen und Stämme in die Moldauebene und ließen sich hier nieder. Erst im Verlaufe einiger Jahrzehnte oder Jahrhunderte formten sich diese in einen Stamm mit einem Fürsten und nannten sich Tschechen. Wann dies genau geschah, ist unbekannt.
Aber wie ging es weiter mit dem Urvater Tschech und seiner Staatsgründung? Nun, einige Zeit nachdem man sich zu Füssen des Rip niedergelassen hatte, beschloss der Bruder des Tschech, ein gewisser Lech, mit seiner Sippe weiter zu ziehen. Man wanderte Richtung Norden, überquerte die Berge und ließ sich in einer fruchtbaren Ebene nieder - und so entstand, der Sage nach, Polen.
Nach dem Tode des Urvaters Tschech übernahm dessen Neffe Krok die Macht. Probleme gab es, weil dieser nur drei Töchter hatte. Die jüngste soll die klügste gewesen sein und übernahm die Herrschaft nach dem Tode des Vaters. Jene Tochter hieß Libuse bzw. Libussa und soll die Stammesmutter der ersten böhmischen Fürsten, der Premysliden sein. Auch darüber, wie Libuse ihren Gatten fand, existiert eine schöne Sage.
Da die Nachkommen des Urvaters Tschech nicht von einer Frau regiert werden wollten, machte sich Libuse auf die Suche nach einem würdigen Gatten. Sie besaß die Gabe einer Seherin und konnte voraussagen, wo sie ihren zukünftigen Gatten finden wird. Ihr kluges, weißes Pferd zeigte den Weg: auf einem Feld fand man den Bauern Premysl, der gerade pflügte - und da es die Vorsehung so wollte, wurde er der Gatte der Libuse und Herrscher über die Tschechen. Die beiden gründeten das Geschlecht der Premysliden, das bis 1306 über Böhmen herrschte. Dann starb die männliche Linie aus. Die Mutter des bekanntesten böhmischen Königs, Karl IV., war der letzte weibliche Sprössling dieses Geschlechts mit sagenhaftem Beginn.
Bedrich Smetana setzte der Dynastiegründerin ein musikalisches Denkmal - 1881 wurde seine Oper "Libuse" uraufgeführt. Aus dieser haben Sie heute bereits einige Ausschnitte gehört. Auch die Stadt Prag verdankt übrigens Libuse ihre Entstehung. In einer Vorsehung soll sie die Gründung und den Ruhm der Stadt vorausgesagt haben:
"Sieh, ich erblicke die Stadt, ihr Ruhm reicht bis zu den Sternen, ein unscheinbares Dorf, in einem Wald gelegen, dreißig Meilen von hier, bespült von der Wlitawa Wellen...Wenn ihr dorthin kommt, werdet ihr mitten im Wald einen Mann treffen, der für ein Haus die Schwelle anfertigt, und weil zu der niedern Schwelle sich auch große Herren neigen, sollt ihr, den Vorgang entsprechend die Stadt, welche ihr dort erbaut, Prag nennen."Der tschechische Ausdruck für Schwelle lautet prah, deshalb soll die Stadt Praha heißen. In Smetanas Oper hört sich die Weissagung Libuses über die Gründung Prags so an:
Und mit Libuse sind wir am Ende unseres Geschichtskapitels über die sagenhafte Entstehung des böhmischen Staates.