Remigranten: Tschechische Rückkehrer und ihre Kinder
Berufsverbot, politische Verfolgung oder einfach nur Frust auf das Leben in der realsozialistischen Tschechoslowakei. Das waren die Gründe für viele Tschechen nach 1968 - nach der Niederschlagung des Prager Frühlings - ihre Heimat zu verlassen. Seit 1989 sind einige dieser tschechischen Emigranten aus dem Westen nach Tschechien zurückgekehrt. Acht Rückkehrer-Familien hat die tschechisch-österreichische Soziologin Ruth Krcmar untersucht. Sie selbst ist auch Remigrantin - nach Kindheit, Schule und Studium in Wien heute zurück in Prag. Daniel Satra berichtet.
"In der Emigration war ein überdurchschnittlich großer Anteil an Akademikern. Die Menschen, die ich interviewt habe, hatten fast alle einen Hochschulabschluss. Das waren alles Menschen, die etabliert waren, die sich eine gewisse materielle Grundlage geschaffen hatten, die Arbeit hatten und ihre Familie ernähren konnten: Das alles ist andererseits auch eine Grundlage für ihre Rückkehr gewesen. Die meisten meiner Gesprächspartner haben gesagt: 'Es war 1989, und wir wollten unbedingt zurück. Wir waren ein paar Mal hier in Tschechien und haben uns entschlossen das zu machen, aber: Man kann nicht einfach alles aufgeben und zurückkommen'. Das heißt, die Voraussetzung zur Rückkehr war, dass diese Menschen in Tschechien eine reelle Chance hatten sich auch zu etablieren und keinen materiellen Verlust und Statusverlust zu erleiden."
Eine Forschungsannahme, die sich für die Soziologin aus den Gesprächen ergeben hat, war dann auch: Rückkehrer aus höheren Bildungsschichten hatten es einfacher. Die politische und wirtschaftliche Wende nach 1989 hatte in der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik an vielen Stellen ein Vakuum hinterlassen. Führungspositionen in neu angesiedelten westlichen Unternehmen mussten besetzt werden. Schauspieler, die unter den Kommunisten Spielverbot hatten, konnten in einer neu aufblühenden Kulturlandschaft wieder Fuß fassen.
Erschwert hat den Rückkehrern das Leben in der neuen-alten Heimat nicht nur ein ungewohnt niedriger Lebensstandard. Schwerer wog für viele der Mangel an Offenheit, den sie bei ihren Landsleuten verspürten. Anstatt mit offenen Armen empfangen zu werden, fühlten sie sich nur skeptisch beäugt. Sie galten als die reichen Westler. Tscheche und Tscheche hatten sich in 20 Jahren weit auseinander gelebt. Ruth Krcmar sieht noch andere Gründe, die die Ablehnung der Daheimgebliebenen erklären können:
"Die Emigration wurde einerseits während des Kommunismus komplett verteufelt - das war Teil der Propaganda - und andererseits haben die Tschechen in ihrer Geschichte immer ihre Eliten verloren. Schon seit der Schlacht am Weißen Berg im Jahr 1620 waren immer die Eliten weg, und im 20. Jahrhundert dann sogar dreimal. Das heißt, dass es vielleicht auch ein gewisses Gefühl des Verrats gab."
Im Kommunismus saßen Arbeiter, Maurer und Studenten noch politisch in einem Boot, sagt Krcmar. Den Kontrast von reich und arm gab es nicht, so auch die Erinnerungen der Rückkehrer. Jetzt plötzlich fanden sie sich in einer Gesellschaft wieder, die auffächerte, die nach oben hin Chancen auf Reichtum bot, und am unteren Rand viele sozial abstürzen ließ. Die neue Tschechoslowakei hatte Auswirkungen auf die Rückkehrsituation:
"Es war so, dass die Befragten gesagt haben, es sei nicht wie eine Rückkehr, sondern wie eine zweite Emigration gewesen. Und zwar eine zweite Emigration, die auf eine gewisse Art emotional schwerer zu bewältigen war. Denn: Bei der 'ersten' Migration ging man in ein Umfeld, das nicht besetzt war. Die einzige Bedingung war, dass man dort - im Westen - freier leben konnte, dass man draußen war, und dass man seinen Kindern etwas bieten konnte. Die Rückkehr war eine Rückkehr in eine Gesellschaft, die sich in den vergangen Jahrzehnten stark verändert hatte."
Josefina Stepanek ist Kind tschechischer Rückkehrer. 1994 hatten sich ihre Eltern entschlossen München zu verlassen und zurück nach Prag zu ziehen. Die in Prag geborene und in Wien und München aufgewachsene Stepanek musste mit. Sie erinnert sich:"Zu der Zeit war ich gerade 17 Jahre alt, also voll in der Pubertät. Das war für mich ziemlich schwierig, weil ich in Deutschland frisch verliebt war, mein ganzer Freundeskreis war dort. In Prag kannte ich gerade mal vier Leute, die ich noch aus der Zeit kannte als ich vier Jahre alt war. Das alles war für mich ein ziemlich großer Schock. Denn: Ich wusste ganz genau, ich gehe irgendwo hin, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse ganz anders sind als in Deutschland, und wo ich eigentlich überhaupt nicht weiß, was ich machen soll."
Anders waren zu Beginn vor allem die kleinen Dinge, erinnert sich die gebürtige Pragerin. Das erste, was ihr nach ihrer Ankunft in der tschechischen Hauptstadt vor zehn Jahren aufgefallen ist:
"Ich habe keine große Auswahl in den Geschäften. Hier gibt es eigentlich nicht das, was es in Deutschland gibt. Zum Beispiel gute Tiefkühlpizza, die ich damals gern gegessen habe, gab es hier leider nicht. Solche Sachen fallen einem sofort auf."
Ganz unvorbereitet kam sie jedoch nicht nach Tschechien: Seit 1989 war sie gemeinsam mit ihrem Bruder und ihren Eltern häufig dort gewesen. Nur, sagt die heute 27-Jährige, das waren ja immer bloß Ferien. Zwar war Josefina Stepanek zweisprachig aufgewachsen und beherrschte Tschechisch, aber:
"Das Problem ist allerdings, dass wir zuhause so eine Art Familiensprache gesprochen haben. Das heißt: Viele Worte, die hier in Tschechien gefallen sind, habe ich gar nicht verstanden, und die Fernsehnachrichten habe ich am Anfang auch nicht verstanden, das war eine ganz andere Sprache. Teilweise wusste ich beim Sprechen auch nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Das Schwierige dabei war, dass ich akzentfrei gesprochen habe und plötzlich einfach Fehler reingehauen habe - und dann wurde ich blöd angeschaut. Das waren zum Beispiel so Fehler, dass ich anstatt 'liniertes Heft' 'gestreiftes Heft' gesagt habe."
Zehn Jahre lebt Josefina Stepanek nun in der Heimat ihrer Eltern. An der Deutschen Schule in Prag hat sie ihr Abitur gemacht, anschließend an der Karlsuniversität am Institut für internationale Beziehungen studiert. Heute arbeitet sie für einen Verlag. Ihr Tschechisch ist längst einwandfrei, obwohl sie verrät, dass ihr das Schrifttschechische immer noch etwas Mühe bereitet. Will sie irgendwann zurück nach Deutschland?
"Deutschland wäre vielleicht eine Option, ich weiß allerdings, dass ich mit meinen Sprachkenntnissen hier viel größere Chancen habe, als in ganz Deutschland. Einerseits wegen der Arbeitslosigkeitssituation in Deutschland, aber auch weil ich fließend Deutsch spreche, und ich kann hier in Prag mein Deutsch und mein Englisch viel besser nutzen, als mein Tschechisch in Deutschland - das ist einfach so. Hier habe ich viel mehr Möglichkeiten zu arbeiten. Eigentlich bin ich beruflich ziemlich fest in Prag verankert. Wenn ich aber ein Angebot bekomme, zum Beispiel aus Deutschland oder vielleicht aus Helsinki oder von irgendwo her, dann ist es mir im Prinzip völlig egal, wo ich wohne."
Verwurzelt fühlt sich Josefina Stepanek nicht. Weder in Tschechien noch in Deutschland. Sie gehört zu der Generation junger Europäer, die begonnen haben ohne Grenzen zu leben, zu studieren, zu denken. Nicht Staaten, sondern Städte sind entscheidend für das Wohlbefinden - Metropolen wie Prag, die etwas zu bieten haben. Ihre persönliche Migrationsgeschichte hat das Selbstbild der jungen Wahl-Pragerin geformt:
"In der deutschen Gesellschaft wurde ich immer als die Tschechin angesehen, was mich eigentlich nicht gestört hat, und hier in Tschechien werde ich immer als die Deutsche angesehen. Zwar akzeptieren mich die Menschen. Aber ich selbst fühle mich weder dem einen noch dem anderen Land zugehörig. Ich bin irgendwo dazwischen, was nicht schlimm ist."
Irgendwo dazwischen. Und nicht schlimm. Weder das eine noch das andere. Zwei Kulturräume zugleich bestimmen auch die Selbstbeschreibung von Josefina Stepanek. Widersprüche, die dabei entstehen, fühlen viele aus der Generation dieser so genannten Emigranten-Kinder. Die Soziologin Ruth Krcmar fand Übereinstimmungen:
"Hier kommt es zu einer ganz interessanten Definition: Es ist eine Weder-Noch-Identifikation. Das heißt: Sie sagen nicht: 'Ich bin sowohl Tscheche als auch Deutscher' oder 'ich bin sowohl Tschechin als auch Belgierin', sondern sie sagen: 'Ich bin weder das noch das'. Sie sagen: 'Ich trage bestimmte Elemente in mir, und die greife ich heraus. Aber ich identifiziere mich nicht so stark mit Beidem, um sagen zu können: Ich bin sowohl das als auch das."
Das Sowohl-als-auch der Kindergeneration ist nicht allein eine Frage des psychischen Gleichgewichts. Das Sowohl-als-auch bedeutet auch die doppelte Chance auf einen Job - in Deutschland oder in Tschechien. Die Tschechische Republik als zweites Standbein in der Erwerbsbiografie - einer von vielen Wegen in Richtung gelebte Europäische Union.