Poesie in der Stadt

Seit einigen Tagen sieht man in Prager U-Bahnhöfen, an Haltestellen und Litfasssäulen anstelle der üblichen Werbeplakate großformatige Gedichte hängen. Eine Überraschung für den wartenden Passanten, der beim flüchtigen Schweifen über Werbeslogans nun plötzlich auf Wortspiele ganz anderer Art trifft. Mehr dazu von unserer freien Mitarbeiterin Rainette Lange:

"Cas pro básen" - "Zeit für ein Gedicht" heißt die Aktion, deren Initiatoren es sich zur Aufgabe gemacht haben, Lyrik im öffentlichen Raum zu verbreiten und auf diese Weise den Menschen die oft widerspenstig und schwer verständlich erscheinende Kunstform näher zu bringen. Zwei Wochen lang werden in ganz Prag auf ca. 340 Plakaten Gedichte zu lesen sein, die der Feder von Lyrikern aus insgesamt sieben europäischen Staaten entstammen - der Slowakei, Bosnien-Herzegowina, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Österreich und Tschechien. Jeweils ein Gedicht aus jedem Land wurde ausgewählt und in die Sprachen aller teilnehmenden Länder übersetzt, denn die Plakataktion wird nacheinander in den Hauptstädten aller genannten Länder stattfinden. Das Motto der Kampagne, die in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal stattfindet, lautet Transformation, und symbolisiert damit den Prozess, in dem sich das gegenwärtige Europa befindet. Zum Thema Transformation die Vertreterin des Kulturausschusses der Stadt Wien, Marianne Klicka:

"Transformation ist sozusagen ein Übergang, ein Überleiten, ein Aufbrechen und ich denke, dass gerade die Transformation jetzt im Rahmen der EU uns alle dazu auffordert, über unsere eigene Identität nachzudenken, aber auf der anderen Seite auch die kulturellen Angebote, die es in den Städten um uns herum gibt, aufzunehmen. So wird es uns leichter gelingen, über den kulturellen Weg einander entgegen zu gehen und zusammenzuwachsen. Nur so werden wir gemeinsam in einem gemeinsamen Europa auch etwas erreichen können."

Auch Lyrik ist ein Medium, das in der Transformation beheimatet ist, das Räume und Zustände benennt, die keine Grenzen kennen. Die präsentierten Gedichte setzen daher ein Signal für ein offenes und grenzenloses Europa, das jedoch gleichzeitig Raum für das Eigenständige und Besondere der einzelnen Kulturen lässt. Die Lyrikinitiative, die in einer ähnlichen Form bereits 1983 in Wien ins Leben gerufen wurde, fand unter der Wiener Bevölkerung bisher großen Zuspruch. Wie kam dann die Zusammenarbeit mit Prag und den anderen Ländern zustande? Frau Marianne Klicka:

"Wir haben im Jahr 2003 begonnen, mit unseren Nachbarländern Kontakt aufzunehmen, ursprünglich musste die Aktion natürlich auch in Wien wachsen. Für uns war es also im Hinblick darauf, dass im Mai 2004 unsere Nachbarländer auch der EU beitreten werden, wieder ein Anlass. Wir haben viele Kulturkontakte mit der Stadt Wien und diesen Ländern, um die Aktion hier zu starten und ins Leben zu rufen. Wir hoffen, dass sie sich auch hier etabliert und weiter ausdehnt und auch von den Städten hier die nötige Unterstützung finanzieller Art erhalten wird."

Ob die Gedichte auch in Prag mit solch großem Interesse wahrgenommen werden und ob sie dazu beitragen, den Kontakt zwischen den Kulturen über den Weg der Literatur zu fördern, wird sich erst in den nächsten Wochen zeigen.