Olympische Geschichte: Tschechen gewannen 170 Medaillen im Sommer
Die Olympischen Sommerspiele in Athen haben uns dieser Tage in ihren Bann gezogen. Es sind die 28. Spiele der Neuzeit, seit die Olympiade in ihrer heutigen Form im Jahre 1896 in Athen aus der Taufe gehoben wurde. Nach 108 Jahren sind sie quasi an ihre erste Wirkungsstätte, die griechische Hauptstadt zurückgekehrt. Und auch wir wollen heute die Gelegenheit nutzen, um einen Blick zurückzuwerfen, und zwar auf die olympische Entwicklung in Böhmen und Mähren, der späteren Tschechoslowakei und der heutigen Tschechischen Republik. Dazu haben wir uns einen in dieser Hinsicht äußerst erfahrenen Mann ans Mikrofon geholt, nämlich den Sporthistoriker beim Tschechischen Olympischen Komitee (COV), Frantisek Kolár. Also seien Sie gespannt.
Die Anfänge der olympischen Bewegung im heutigen Tschechien gehen auf die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. Damals gehörten die so genannten Böhmischen Länder noch zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die sich im Jahre 1891 anschickte, eine umfassende Schulreform durchzuführen. Besonderes Augenmerk wurde hierbei, so Frantisek Kolár, auf eine verbesserte Körperertüchtigung gelegt, zumal in dieser Zeit der Sport generell auf dem Vormarsch war. Im Rahmen dieser Reformbemühungen weilte ein gewisser Jirí Guth - seines Zeichens Professor am Gymnasium in Klatovy - zu Studienzwecken in Frankreich. Dort lernte er u. a. keinen Geringeren als den ursächlichen Begründer der neuzeitlichen Olympiade, den Franzosen Pierre de Coubertin kennen. Coubertin, entzückt von den phantastischen Leistungen der tschechischen Sokol-Turner, die 1889 bei einem großen Turnwettbewerb in Paris die Konkurrenz klar dominierten, fand in dem Weltreisenden Guth bald einen Freund, der sich ebenso für die Erneuerung der olympischen Idee begeisterte. Jirí Stanislav Guth-Jarkovský, so sein voller Name, gehörte daher 1894 zu den Mitbegründern des Internationalen Olympischen Komitees, dem er bis zu seinem Tod im Jahre 1943 angehörte. Von 1919 bis 1923 war er gar dessen Generalsekretär, eine hochrangige Funktion, wie sie nach ihm kein zweiter Tscheche jemals im IOC innehatte. Noch wichtiger für den tschechischen Sport aber war, dass sich Guth 1896 erst so richtig von den ersten Olympischen Spielen in Athen inspirieren ließ. Das erläuterte Kolár wie folgt:
"Guth haben die Spiele von Athen ungemein gefallen, und er begriff bei den Siegerehrungen sehr schnell, was ein sportlicher Erfolg der tschechischen Nation bringen könnte. Als er in seine Heimat zurückkam, schrieb er sofort einen Zeitungsartikel, in dem er vor allem die hiesigen Sokol-Sportler aufforderte, sich mit der olympischen Idee zu befassen. Dabei griff er angeblich auch das Coubertinische Motto ´Wichtiger als der Sieg ist es, an der Olympiade teilzunehmen´ auf, um es auf seine Weise so zu formulieren: ´Für uns Tschechen ist es nicht so wesentlich, bei Olympia teilzunehmen, sondern wichtiger ist es, dort zu siegen´. Der Grund dafür war logisch: Damit die tschechische Fahne gehisst und die tschechische Hymne gespielt wurde, kurz: damit sich die Tschechen dank ihrer Repräsentation in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit bringen. Im Jahre 1896 war ihm das noch nicht gelungen, sondern erst im Jahre 1899, in dem sich die Tschechen dazu entschlossen hatten, an den zweiten Olympischen Spielen 1900 in Paris teilzunehmen. Gemeinsam mit zwei weiteren ausgezeichneten Sportfunktionären, Josef Rössler-Orovský und Václav Rudl, schaffte er es, die Sportvereine für die olympische Idee zu gewinnen und am 18. Mai 1899 in Prag den ´Tschechischen Ausschuss für die Olympischen Spiele in Paris´ zu gründen."
Seit ihrer ersten Teilnahme im Jahr 1900 waren tschechische Sportler stets bei Olympischen Spielen vertreten - mit zwei Ausnahmen: 1904 in St. Louis aus finanziellen Gründen, und 1984 in Los Angeles aufgrund des Olympiaboykotts der Staaten des ehemaligen Ostblocks. Bei diesen insgesamt 25 Teilnahmen errangen sie exakt 170 Medaillen: 55 goldene, 57 silberne und 58 bronzene. Erster Medaillengewinner war sogleich 1900 in Paris der Diskuswerfer Frantisek Janda-Suk, der Silber eroberte. Die vorerst letzten beiden Goldmedaillen errangen 2000 in Sydney Stepánka Hilgertová im Kanuslalom der Damen sowie der schon jetzt legendäre Speerwerfer Jan Zelezný. Der Kanusport und die Leichtathletik gehören dann auch zu jenen drei Sportarten, mit denen sich tschechische Athletinnen und Athleten bei Olympia besonders hervortaten. Frantisek Kolár zählt sie auf:
"Wenn man in der Olympiabilanz der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik die einzelnen Sportarten bezüglich ihrer Erfolgsquote heranzieht, dann überragen drei davon: Erstens die Leichtathletik, insbesondere dank der Leistungen von Emil Zátopek und Jan Zelezný; zweitens das Turnen, und zwar dank der bereits von mir erwähnten großartigen Turner Bedrich Supcík, Ladislav Vácha und Alois Hudec in der Zeit zwischen den Weltkriegen, sowie der späteren Ära von Eva Bosáková und Vera Cáslavská; und dann ist da noch der Kanusport, der überraschenderweise nur um eine Goldmedaille hinter den anderen beiden Sportarten zurückliegt. Hier sind allen noch die Namen von Lukás Pollert, Martin Doktor und Stepánka Hilgertová bekannt, aber ich möchte auch noch einmal an solche Kanuten wie Jan Brzák-Felix oder Josef Holecek erinnern, die ihren jeweils ersten Olympiasieg noch einmal wiederholen konnten: Brzák-Felix 1948 den von 1936 im Zweier-Kanadier und Holecek ließ dem Gold 1948 im Einer-Kanadier ein zweites 1952 in Helsinki folgen."Aber wo viel Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten. Und so kann der tschechische Sport einschließlich der nationalen olympischen Bewegung nicht nur auf die eben nur kurz aufgezählten Erfolge zurückblicken, sondern er müsste sich eigentlich auch mit einem dunklen Kapitel seiner Geschichte noch weit intensiver auseinander setzen. Denn im Zeitalter des Kalten Krieges, als sich nach 1945 mitten in Europa mehr als 40 Jahre lang zwei politische Systeme nahezu unversöhnlich gegenüberstanden, hat auch die damalige Tschechoslowakei versucht, sich mit allen Mitteln im Sport internationale Geltung zu verschaffen. Nach dem Vorbild der ehemaligen DDR übernahm auch die Ex-CSSR das System der so genannten wissenschaftlichen Steuerung des Sports. Den Aussagen von Frantisek Kolár zufolge, bestand dieses System aus drei Komponenten: der ausgeklügelten Talentsichtung und -ausbildung, der wissenschaftlichen Untersuchung biomechanischer Prozesse zur Verbesserung der Trainingsmethodik, und der Entwicklung und Verabreichung unerlaubter Substanzen zur schnellen Muskelbildung bzw. zur Steigerung von Ausdauer und Kondition, kurz: der gezielte Einsatz von Doping. Inwieweit die Tschechoslowakei dieses System übernahm, dazu sagte Kolár:
"Das hat die Tschechoslowakei von der DDR übernommen, und zwar per Gesetz im Jahre 1974. Aber leider tat man das nicht mit der notwendigen Konsequenz. Tschechen und Slowaken übernahmen das System nur in der Art und Weise, die uns zueigen ist, nämlich die halbherzige. Was man lediglich mit allem Drum und Dran übernommen hat, das war das Doping."
Im Gegensatz zur ehemaligen DDR hat aber in der Tschechoslowakei bzw. den Nachfolgestaaten Tschechien und Slowakei bislang keine besondere Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels stattgefunden. Außer dem Gewichtheber Jan Helebrant, der die Einnahme von Aufputschmitteln gestand, hat sich kein anderer tschechischer Ex-Repräsentant geoutet. Beispiele wie das des Kugelstoßers Remigirus Machura kamen nur aufgrund der nach der Wende verschärften Dopingkontrollen ans Licht. Inzwischen befindet sich Tschechien aber auf einem guten Weg, was die Prävention gegen Doping, sprich: das sich Stellen und Einhalten von Dopingkontrollen betrifft. Und daher besteht die berechtigte Hoffnung, dass die tschechischen Medaillengewinner bei der derzeit stattfindenden Olympiade in Athen zu den wahren Gewinnern der Spiele gehören werden.
Und mit dieser Hoffnung verabschieden wir uns auch schon wieder vom Sportreport für heute - auf ein Wiederhören in 14 Tagen!