Vom Gorbi-Land ins Euro-Land: Pavel Cernoch, Leiter des Tschechischen Zentrums in Brüssel

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Im Rahmen unserer Sendereihe "Heute am Mikrophon", schließen wir diesmal eine kleine Brüssel-Trilogie ab. In der vorletzten Sendung konnten Sie ein Gespräch mit dem tschechischen EU-Kommissar Vladimír Spidla hören, voriges Mal war Jan Koukal an der Reihe, der Direktor des Prager Hauses in der belgischen Hauptstadt. Nun hören Sie Gerald Schubert im Gespräch mit Pavel Cernoch, dem Leiter des Tschechischen Zentrums in Brüssel:

Herr Cernoch, wir haben schon öfter aus diversen Tschechischen Zentren berichtet. Es gibt ja insgesamt 19 davon. Können Sie in ein paar Worten erklären, was Ihre Aufgabe ist?

"Das Tschechische Zentrum ist eigentlich das Kulturinstitut der Tschechischen Republik im jeweiligen Land - so ähnlich wie auch das Goethe Institut, das British Council oder das Österreichische Kulturforum. In Brüssel sind wir seit 1996 vertreten. Unsere Aufgabe ist es, die Tschechische Republik durch Kulturprojekte, Ausstellungen, Konferenzen, Seminare oder Tourismus-Präsentationen den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort nahe zu bringen. In unserem Fall sind also die Belgier das Zielpublikum, aber auch - und das ist das Besondere an Brüssel - die Institutionen der Europäischen Union, die Zigtausenden von Menschen, die hier für die EU arbeiten. Wir sind hier also in einem sehr kosmopolitischen, sehr internationalen Umfeld."

Vor kurzem lief bei Ihnen eine Ausstellung von Kunstwerken von Kindern aus Theresienstadt. Leider ist die Ausstellung jetzt nicht mehr zu sehen. Aber vielleicht können wir trotzdem auf eine ihrer Hauptfiguren zu sprechen kommen, nämlich Petr Ginz. Wer war denn das, und in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihm?

"Petr Ginz war ein Junge aus einer Prager Familie. Seine Mutter war aus Königgrätz, sein Vater war ein jüdischer Tscheche, der aus einer gebildeten Prager Familie kam. Mit vierzehn Jahren, Anfang 1942, wurde Petr Ginz nach Theresienstadt deportiert, und zwei Jahre später nach Auschwitz, wo er direkt ins Gas ging. Er wurde also vom nazistischen Regime umgebracht. Mit seinen vierzehn bzw. sechzehn Jahren hat er allerdings eine unglaubliche Menge an literarischen Werken und auch Zeichnungen hinterlassen. Er war ein sehr talentierter junger Mensch, der im Alter von vierzehn Jahren bereits fünf Romane im Stil von Jules Verne geschrieben hatte. Außerdem hat er seine Werke auch selbst illustriert, mit Linoldruck gearbeitet usw. Als er nach Theresienstadt eingeliefert wurde, hat er seine Mithäftlinge mobilisiert, eine geheime Zeitschrift herauszugeben. Sie haben dort Reportagen aus Theresienstadt geschrieben, die Zeitschrift ist insgesamt über zwei Jahre lang erschienen.

Petr Ginz ist ein faszinierender Junge gewesen, und er spricht noch heute zu uns. Er ist nämlich der Schöpfer einer Zeichnung namens 'Mondlandschaft', die mit dem ersten israelischen Astronauten, Ilan Ramon, ins Weltall flog. Ilan Ramons Mutter hatte den Holocaust überlebt, und er wollte ein Symbol setzen. Das Space Shuttle Columbia ist allerdings beim Rückflug abgestürzt, und am nicht erlebten 75. Geburtstag von Petr Ginz, im Februar 2003, ist sein Bild mit der Columbia untergegangen. Eine ganz merkwürdige Kombination also. Und ich muss auch sagen: Als wir die Ausstellung hier im Tschechischen Zentrum hatten, da hatte ich immer das Gefühl, dass Petr Ginz irgendwie bei uns ist - eine Persönlichkeit, die uns bis heute etwas zu sagen hat."

Es gibt da außerdem eine Analogie, die vielen Deutschen etwas sagen wird, und zwar die Analogie zu Anne Frank. Denn man hat ja Tagebücher von Petr Ginz gefunden.

"Genau. Petr Ginz hat ein Tagebuch geführt, das über 60 Jahre lang verschollen war. Erst vor kurzem wurde es auf dem Dachboden eines Prager Hauses gefunden. Nach einigem Hin und Her ist das Buch in den Besitz seiner Schwester, Chava Pressburger, geb. Eva Ginzová, gekommen, die es jetzt im Trigon-Verlag in Prag herausgegeben hat. Wir haben das Buch hier auch präsentiert, und ich bin jetzt gerade dabei, es ins Deutsche zu übersetzen. Ich hoffe, dass wir bis Ende des Jahres einen deutschen Verleger finden. Denn es ist wirklich ein faszinierendes Dokument, das man sehr gut mit dem Tagebuch der Anne Frank vergleichen kann."

Man hört, dass Sie gar keinen Akzent haben, wenn Sie Deutsch sprechen. Wo kommen Sie denn eigentlich her?

"Ich bin als Kind auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aufgewachsen. Ursprünglich stamme ich aus Marienbad, aus einer tschechischen Familie. Meine Mutter hat dann noch einmal geheiratet, und zwar einen Serben, der in der Bundesrepublik Deutschland wohnte. So bin ich mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen, nach Erlangen bei Nürnberg, und bin dort in den Kindergarten und in die Schule gegangen. Ich hatte allerdings die Möglichkeit, meinen Vater und meine Großeltern weiterhin regelmäßig in der Tschechoslowakei zu besuchen, und so habe ich nie den Kontakt zu meiner Heimat verloren. Ich bin also dreisprachig aufgewachsen. Und ich hatte wahnsinniges Glück, in so einem Umfeld groß zu werden, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren."

Aus den drei Sprachen, die Sie seit Ihrer Kindheit perfekt sprechen, sind ja glaube ich mittlerweile mehr als zehn geworden. Und Sie sind gewohnt, in europäischen Strukturen zu arbeiten. Können Sie noch einen kurzen Abriss Ihrer jüngeren persönlichen Geschichte bringen?

"Ich habe vom lieben Gott wirklich ein Geschenk bekommen, nämlich das Talent, Sprachen zu lernen. Ich habe dann noch Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch und Niederländisch gelernt, nachher an der Universität noch Hebräisch, Jiddisch, Slowenisch und Polnisch. Ein bisschen spreche ich auch Portugiesisch, ein bisschen Japanisch. Also das lernen von Sprachen ist etwas, was mir recht leicht fällt, und ich versuche natürlich, alle diese Sprachen in Wort und Schrift auch aufrechtzuerhalten. Zum Glück kann ich hier in Brüssel auch jeden Tag wirklich fünf oder sechs Sprachen benutzen.

Ich hatte das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. 1989 habe ich mein Abitur gemacht, und danach habe ich mit dem Auto eine historische Reise quer durch die Sowjetunion unternommen - gemeinsam mit einem Freund aus Deutschland, in einer Gorbi-Manie. Im September kamen wir in Budapest an, nachdem wir durch die DDR, Schweden, Finnland, die ganze Sowjetunion, Rumänien und Ungarn gefahren waren. Und an dem Tag, an dem die Grenze geöffnet wurde, waren wir mit den ganzen DDR-Bürgern auf dem Campingplatz in Budapest. Dann ging es Schlag auf Schlag: Ich war beim Fall der Berliner Mauer dabei, und bei der Revolution in Prag am 17. November. Danach ist mir ein Traum in Erfüllung gegangen: Die Tschechoslowakei wurde wieder demokratisch und frei. Ab 1995 habe ich für die Europäische Kommission in Prag gearbeitet, nachdem ich vorher in Erlangen Geschichte, Politische Wissenschaft und Slawistik studiert hatte. Nach vier Jahren Arbeit für die Kommission habe ich dann das Zentrum für Europäische Studien an der Karlsuniversität mitgegründet, war ein Jahr lang Gastprofessor in Amerika, habe dort Europäische Studien und Europäische Geschichte unterrichtet, und jetzt arbeite ich eben in Brüssel als Leiter des Tschechischen Zentrums. All diese Stationen waren ein faszinierendes Gemisch von Arbeit für Europa und Arbeit für mein Land."