„Wir haben die Wiedervereinigung noch nicht geahnt“
Rudolf Seiters gehörte vor 30 Jahren zu den Verhandlungsführern der Bundesrepublik über eine Ausreise der DDR-Flüchtlinge. Mehrere Wochen lang liefen die Gespräche mit Ostberlin, Seiters war damals Kanzleramtsminister. Der heute 81-jährige Politiker stand auch am 30. September 1989 auf dem Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag, als Außenminister Genscher den rund 5000 Menschen die Ausreise verkündete. Am Samstag ist er wieder an den Ort des Geschehens zurückgekehrt – zusammen mit damaligen Flüchtlingen nahm er am „Fest der Freiheit“ teil. Auf dem Balkon des Palais Lobkowicz ergab sich die Gelegenheit zu einem kleinen Gespräch mit Seiters.
„Ich bin ja nicht alleine hierhergekommen. Die Flüchtlinge sind in einem außergewöhnlich großen Ausmaß da. Es sind Hunderte, die noch Erinnerungen haben an die Tage und Stunden, die sie hier verbringen mussten. Ich habe immer und auch heute wieder gespürt, wie dankbar sie sind, dass sie die Chance hatten, in die Freiheit zu kommen und mitwirken zu können am Untergang einer Diktatur. Ich habe diese hohe Emotionalität erlebt, bei der Männer und Frauen mit ihren Kindern im Arm gesagt haben: ‚Nicht nur für uns ist diese Freiheit wichtig, sondern jetzt auch für die Zukunft unserer Kinder‘.“
Haben Sie damals vor 30 Jahren auch die Möglichkeit gehabt, ausführlicher mit den Menschen zu reden, oder gab es nur Zeit für Offizielles?
„Nein. Genscher und ich sind erst in der Nacht zurückgeflogen und sind dort in die Fernsehanstalten gegangen. Wir haben hier trotzdem viele Stunden verbracht. Es gibt auch Fotos, auf denen wir mit vielen Flüchtlingen reden. Ich wurde heute wieder von zahlreichen Flüchtlingen angesprochen, die damals Kontakt mit mir hatten.“
Wie waren denn diese letzten entscheidenden Verhandlungen mit der Führung der DDR und den Vertretern Ost-Berlins? Wie glatt ist das damals gelaufen?
„Ich hatte auch telefonisch viele Gespräche, unter anderem mit dem Außenminister Fischer, seinem Stellvertreter Kolikowski in Ost-Berlin, dem Rechtsanwalt Vogel oder mit Schalck-Golodkowski und dem Ständigen Vertreter der DDR Horst Neubauer. Die Haltung war stur, und das auch nach der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze. Je näher aber der Oktober rückte, umso spürbarer war die Nervosität. Man wollte ja nicht, dass die große Jubiläumsfeier (zum 40. Gründungstag der DDR, Anm. d. Red.) überschattet wird von den schädigenden Bildern aus Prag. Außerdem wollte Schalck-Golodkowski Devisen und Finanzhilfen. Diese konnte ich ihm zusichern, jedoch unter der Bedingung, dass die Flüchtlinge freigelassen werden. Deshalb war ich auch nicht überrascht, als ich am 29. September einen Anruf bekam, dass mich Herr Neubauer dringend sprechen wollte. Wir trafen uns am nächsten Tag gemeinsam mit Genscher in meinem Büro, und dann wurde uns diese positive Nachricht überbracht. In der Folgezeit merkte man das Interesse der DDR, dieses Problem zu lösen. Wir wollten dies nicht für Ost-Berlin tun, deshalb war die Entscheidung folgerichtig.“Hatten Sie damals schon das Gefühl, dass es nicht mehr lange so weitergehen könnte?
„Wir haben am 30. September und auch danach noch nicht geahnt, dass wir ein Jahr später die Wiedervereinigung haben würden. Das glaubten wir übrigens auch noch nicht am 9. November, als die Mauer fiel. Helmut Kohl stellte 14 Tage danach ja seinen Zehn-Punkte-Plan vor, der noch aus einer ganz anderen Zeit stammte. Da ging es um konföderierte Strukturen etc. Natürlich war es ein großes Problem für die DDR, dass der Flüchtlingsstrom nicht aufhörte, auch nicht nach der Öffnung des Brandenburger Tores. Die Überzeugung, dass wir nun die Chance auf die Wiedervereinigung haben, kam erst in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember in Dresden. Das waren die Stunden, als Helmut Kohl mit großem Jubel vor den Ruinen der Frauenkirche bejubelt wurde. Auf dem Weg ins Hotel war der Weg gesäumt von Zigtausenden Menschen, die ‚Wir sind ein Volk!‘ und ‚Helmut, Helmut‘ riefen. Da waren wir überzeugt, auch angesichts der finanziellen Lage der DDR, dass es keinen Sinn mehr habe, irgendwelche Vereinbarungen mit der Regierung Modrow zu treffen. Das aber mit Ausnahme der freien Wahlen, die dann ja auch am 18. März 1990 stattfanden.“