Bis nach Mähren – der Roman „Bushaltestelle“
„Bushaltestelle“ heißt das neuerschienene Buch der deutschen Autorin Ulrike Anna Bleier. 2017 kam ihr erster Roman „Schwimmerbecken“ auf die Hotlist der zehn besten Bücher von unabhängigen Verlagen. In ihrem neuen Werk fällt besonders die ungewöhnliche Erzählperspektive auf. Sie nimmt den Leser mit auf eine faszinierende Spurensuche in einer deutsch-tschechischen Familiengeschichte. Vor kurzem war die Autorin für eine Lesung in Prag.
„Ich bin sehr glücklich, dass ich hier in Prag lesen kann, denn für mich gehört der Roman mindestens zur Hälfte nach Tschechien. Deshalb ist es für mich auch sehr emotional und wichtig, dass ich ihn jetzt auch hier vorstellen kann.“
Nach einleitenden Worten des Veranstalters und nach einigem freundlichen Gelächter, warnte Frau Bleier jedoch:
„Das Buch ist überhaupt nicht lustig, sondern eher traurig. Sie müssen sich jetzt darauf einstellen, dass Sie die nächste Stunde wahrscheinlich nicht so viel lachen werden. Wenn Sie aber trotzdem lachen wollen, tun Sie sich keinen Zwang an.“
Die Furcht vor „den Roten“
Der Roman handelt von Elke und ihrer Mutter Theresa sowie den komplexen Verknüpfungen innerhalb der Familie:
„Es geht um eine sehr schwierige Mutter-Tochter Beziehung. Eigentlich eine Nichtbeziehung, man könnte das eine Nichtbeziehung nennen“, so Bleier.Eine Nichtbeziehung, weil Elke schon seit ihrer Geburt unerwünscht war. Theresa kann das Kind nicht ertragen und versucht es zu ignorieren. Es hat rote Haare, wie sein Vater Sepp. Ein Mann, den Theresa nur aus Verzweiflung geheiratet hat und den sie verabscheut.
„Die Tochter Elke löst dieses Problem der für sie sehr verletzenden Nichtbeziehung dadurch, dass sie von einem Tag auf den anderen aus dem Leben der Mutter und auch der Familie verschwindet. Trotzdem bleibt Elke mit ihrer Mutter durch eine Art inneren Dialog verbunden.“
Und dieser innere Dialog bestimmt das ganze Buch. Denn Elke spricht ihre Mutter direkt an. Fast die ganze Geschichte wird aus der Du-Perspektive erzählt. Dadurch entsteht eine starke Intimität mit der Mutter, also Theresa. Aber Elke verblasst im Hintergrund. Nur selten bekommt man sie zu fassen – nur wenn Theresa ihre Tochter in Gedanken streift, oder wenn kurz in der dritten Person von Elke erzählt wird. Sie selbst scheint nicht die Kraft zu haben, über sich zu reden.
Keine Anführungszeichen
Ungefähr ein Drittel des Buches handelt direkt von Elke. Allerdings taucht sie nur in der dritten Person auf. Warum lässt die Autorin Elke nicht aus der Ich-Perspektive erzählen?„Das hat sozusagen poetologisch nicht funktioniert, da Elke ja einfach kein starkes Ich hat – jedenfalls kein Ich, das sich mitteilt. Und ein Ich, das sich nicht mitteilt, kann nicht in der Ich-Perspektive eine Geschichte erzählen.“
Bleier hat bei ihrer Präsentation in Prag unter anderem das Kapitel „Funker“ vorgelesen: Theresas Schwester soll nach Mähren geschickt werden, um dort als Funkerin zu arbeiten. Nur hat Theresa noch nie in ihrem Leben von Mähren, einer Gegend im heutigen Tschechien, gehört. Stattdessen glaubt sie, dass ihre Schwester Funkerin im Märchen werden sollte. Und sie fragt sich, was wohl mit dem „ch“ geschehen sein mag. Dieses Kapitel bildet die erste Brücke nach Tschechien.
Viel später erfährt Elke, dass sie eine Tante in dem Land hat. Tante Magdalena, oder auch Madla. Sie macht sie ausfindig und fährt zu ihr. Von da an bleibt Elke in Tschechien. Sie lernt auch die fremde Sprache. Eine Sprache, die sich im Buch wie ein ständiges Hintergrundrauschen mitlesen lässt: Laufend kommen einzelne tschechische Wörter und kurze Dialoge vor. Ganz besonders wichtig ist aber ein Kinderlied, holka modrooká. Es handelt von einem blauäugigen Mädchen, das gewarnt wird, nicht zum Fluss zu gehen. Das Lied begleitet den Leser bis zum Ende des Buches und wiederholt sich immer in anderen Zusammenhängen.
Der Ort im Osten
Als Leser fragt man sich jedoch: Warum gerade Tschechien? Daraufhin meint Bleier lachend, dass Sie zwei Semester lang Tschechisch gelernt habe. Und beides, die Sprache und das Land, würden eine Faszination auf sie ausüben. Außerdem verweist sie auf das Zitat des österreichischen Autors Joseph Roth:„Er spricht von einer Sehnsucht nach Prag. Nicht als sein Gefühl, sondern als eine Befindlichkeit, die ganz viele Menschen haben: Sehnsucht nach Prag. Und er erklärt das eben damit, dass Prag die Heimat der Heimatlosen sei. So fühlt sich für mich auch Tschechien und die tschechische Sprache an.“
In „Bushaltestelle“ wird der Leser eingesogen in das Leben von Menschen, die bedeutungslos sind. Oder sich zumindest als bedeutungslos empfinden und nicht gesehen werden.
„Ich wollte über Menschen schreiben, die eigentlich keine Stimme haben und die eigentlich auch uninteressant sind. Sie werden in gewisser Weise ausgegrenzt und ignoriert“, erklärt die Autorin.
Denn eigentlich betrifft das die meisten von uns. Bleier gelingt es, den Leser in einen Bann zu ziehen. Die Figuren beklagen sich nicht. Und trotzdem dringt man in sie ein und spürt ihre Angst.