Deutsche Literatur Prags, Böhmens und Mährens

Manfred Weinberg und Lukáš Motyčka (Foto: Markéta Kachlíková)

Ein neues Handbuch gibt einen Überblick über die deutschsprachige Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Zusammengestellt wurde es von einem breiten Kollektiv der Autoren aus Tschechien, Deutschland und Österreich. Radio Prag hat mit den Germanisten Manfred Weinberg und Lukáš Motyčka von der Prager Karlsuniversität. über das umfassende Nachschlagewerk gesprochen.

Foto: J. B. Metzler Verlag
„Handbuch der deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder“ ist der Titel Buches, das vor kurzem erschienen ist. Was bietet diese Publikation?

MW: „Die Publikation versucht ein neues Standardwerk zu sein zu dem Phänomen der deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern und Prags. Am Anfang steht eine theoretische Grundlage, die sich an deutschsprachige Leser richtet. Des Weiteren bietet das Buch noch einen Überblick über die Geschichte der böhmischen Länder, Institutionen oder Vereine. Ein weiteres Kapitel gibt einen Überblick über die gesamte Literaturgeschichte von der Aufklärung bis 1948. Dabei stechen bei dieser die deutsche Literatur Prags, Themen, Motive oder besondere Untergattungen, Gattungen und Genres heraus.“

Sie sprechen von einem Standardwerk. Woran kann man eigentlich anknüpfen? Gibt es bereits Publikationen zur deutschsprachigen Literatur aus Böhmen und Mähren? Oder ist es das erste Buch dieser Art, das so einen umfassenden Überblick bietet?

Manfred Weinberg und Lukáš Motyčka  (Foto: Markéta Kachlíková)
MW: „Das ist das erste Buch dieser Art. Der Band ist Kurt Krolop gewidmet. Unsere Forschungsstelle trägt ihn auch im Namen, Kurt Krolop Forschungstelle für deutsch-böhmische Literatur. Er war sicher der Forscher, der einen vergleichbar detaillierten Blick auf die Prager Deutsche Literatur geworfen hat. Krolop hat sich mit jeweils bestimmten Konstellationen beschäftigt. Für uns war aber wichtig, einen Gesamtentwurf zu liefern und die alten Modellierungen in Frage zu stellen. Dabei konnte man natürlich auf Vorgeschichten Bezug nehmen. Das haben wir fortgesetzt und versucht, alles in ein Gesamtzusammenhang zu stellen, sodass tatsächlich der erste Gesamtüberblick aus dieser Perspektive entstanden ist.“

Für Fachleute und breite Leserschaft

An wen richtet sich das Handbuch, an Experten oder an interessierte Laien?

Foto: J. B. Metzler Verlag
MW: „Mit dem Metzler-Verlag ist es gelungen, den renommiertesten Handbuchverlag in Deutschland für dieses Handbuch zu begeistern. In diesem Verlag ist es das erste Handbuch über die Literatur einer Region. Dadurch wendet sich unser Werk auch schon an eine breite Leserschaft. Wir hatten aber nicht nur diese im Auge. Natürlich sind es auch unsere germanistischen Kolleginnen und Kollegen in Österreich und Deutschland. Insofern haben wir schon sehr stark darauf geachtet, das Ganze einerseits theoretisch anspruchsvoll zu begründen, also deutlich zu machen, was wir unter Interkulturalität verstehen und welche Raumkonzepte wir verwenden. Die erste Rückmeldung, die wir durch eine Rezension erhielten, sagt, es sei dann doch für die breite Leserschaft vielleicht ein bisschen zu anspruchsvoll. Natürlich denke ich, dass so ein Handbuch anspruchsvoll ist, dennoch ist es sehr gut lesbar. Beide Adressatengruppen sind somit wichtig, germanistische Kolleginnen und Kollegen sowie die breite Leserschaft.“

LM: „Eine große Leistung dieses Buches ist auch, dass durch den theoretisch neuen methodologischen Rahmen für diese Themen, die Themenbereiche für die sogenannte große deutsche Germanistik salonfähig gemacht werden.“

Vielfältige Region – Teil europäischer Literatur

Peter Becher  (Foto: Archiv der Mährischen Landesbibliothek)
Wir sprechen von der deutschen Literatur Prags und der böhmischen Länder. Ist diese ein besonderes Phänomen? Gibt es gemeinsame Züge, die diese Literatur aufweisen kann?

MW: „Wenn man ein Handbuch zu der Literatur einer Region herausgibt, dann muss man behaupten, dass es da etwas Einheitliches gibt. Andernteils sollte man das mit der Einheit nicht zu weit treiben. Die Herausgeber sind Peter Becher aus München, Steffen Höhne aus Weimar, Jörg Krappmann aus Olmütz und ich. Es gab schon immer die Diskussion zumindest darüber, wie sehr Mähren und Böhmen im Vordergrund stehen sollen, oder ob das auf der einen Seite zu wenig oder genügend vorkomme. Es ist in sich noch eine vielfältigere Region. Wir haben die Stadtliteratur aus Prag, natürlich auch die aus Brünn, wir haben Böhmen und Mähren. Trotz dessen behaupten wir, es gibt einen inneren Zusammenhang, weil es ein Kommunikationsnetz gegeben hat, an dem die Autoren beteiligt waren. Wichtig sind aber auch die Anschlusspunkte, die über die Regionen hinaus gewirkt haben. Erstens innerhalb der Region – die Nähe zur tschechischen Literatur, die bis jetzt fast gar nicht berücksichtigt worden sind. Zweitens auch das gesamteuropäische Netzwerk, von dem Prag ein Teil gewesen ist. Es gibt Aussagen, dass zu einer gewissen Zeit die Prager Deutsche Literatur als die entscheidende deutsche moderne Literatur gegolten hätte. Insofern muss man die ganzen Netzwerke beachten, die sich bis nach Wien und von der tschechischen Literatur aus nach Paris und von der deutschen Literatur nach Berlin spannen. Also einesteils ja, kann man von einer einheitlichen Region sprechen, andernteils in sich vielfältig und nach außen vielfältig vernetzt.“

Das Handbuch wurde auf Deutsch und überwiegend von deutschen Forschern geschrieben. Bedeutet das, dass das Thema der deutschen Literatur aus den böhmischen Ländern in der tschechischen Germanistik kein Schwerpunktthema ist?

MW: „Ich würde nicht sagen, dass die Beiträge hauptsächlich deutsch sind. Ich denke, es ist halb deutsch und halb tschechisch. Und unter den deutschstämmigen Herausgebern sind zwei davon Professoren in Olmütz und in Prag. Momentan findet in fast jeder Zeitschrift in der Tschechischen Republik, die etwas mit Literatur zu tun hat, eine Besprechung dieses Handbuches statt. Die Belegexemplare sind schon raus und wir warten auf die ersten Rückmeldungen. In Deutschland ist die Besprechung dieses Handbuches noch nicht ganz intensiv. Es gibt dennoch ein großes Interesse daran und es sieht so aus, als würde dieses Handbuch in absehbarer Zeit, vielleicht in zwei Jahren ins Tschechische übersetzt werden können.“

„Enorm politisches Buch“

Motyčka: Es ist auch ein enorm politisches Buch, denn dieses Buch thematisiert sehr viele Themen, die bis heute noch als heikel betrachtet werden.

LM: „Ganz banal kann man sagen, dass es ein sehr wichtiges Buch ist. Es ist das erste Nachschlagewerk dieser Art überhaupt. Des Weiteren ist es auch neu eingerahmt, also theoretisch-methodologisch. Es ist auch ein enorm politisches Buch, denn dieses Buch thematisiert sehr viele Themen, die bis heute noch als heikel betrachtet werden. Ein Beispiel dafür ist das Phänomen des Grenzlandromans. Ein Kollege aus Olmütz hat gezeigt, dass es diese Gattung auch auf der tschechischen Seite gab. Diese Gattung war sehr kämpferisch und hat die Beziehung zwischen den Deutschen und Tschechen auf eine sehr nationale und nationalistische Weise dargestellt. Das sind alles sehr heikle Themen, die heutzutage wieder einmal politisch instrumentalisiert werden. Das ist heute auch eine Aufgabe von uns, Akademikern und Forschern, diese neuen Themen publik zu machen, sie anzusprechen und möglichst objektiv und ohne Emotionen darzustellen. Diese Publikation leistet auch einen Beitrag dazu, was heutzutage enorm wichtig ist.“

MW: „Diese politische Dimension gilt auch für die deutsche Perspektive. Auf der einen Seite gibt es die tschechische Sicht mit ihren Tabus, und es gibt eine viel zu schwach entwickelte Vorstellung von dem, was östlich von Deutschland liegt. Es ist einfach notwendig, ein viel stärkeres Wissen über das, was östlich von Deutschland ist, in Diskussion in Deutschland hineinzubringen.“