Fluchtversuche und Leben am Stacheldraht
Im österreichischen Waldviertel erlebte man den Prager Frühling und seine spätere Niederschlagung hautnah. Erst freute man sich über die neue Offenheit bei den tschechoslowakischen Nachbarn, doch dann war man wieder zurück im Kalten Krieg. Ein Besuch in Gmünd und Schrems.
„Wir haben unser Wissen vor allem aus dem Fernsehen gehabt. Es gab auf einmal Sendungen über die Tschechoslowakei, die der damalige ORF-Direktor und spätere Wiener Oberbürgermeister Helmut Zilk gestaltet hat. Aber auch an der Grenze haben wir gemerkt, dass alles lockerer geworden war. Bis Anfang 1968 war der Grenzübertritt ja nur mit einem Visum möglich, das sehr umständlich in Wien ausgestellt werden musste. Auch die Kontrollen waren bis dahin sehr kompliziert. Wir haben gesehen, dass sich da etwas tut, und Alexander Dubček hat einen sehr sympathischen Eindruck auf uns gemacht.“
Dass der Eiserne Vorhang vor 50 Jahren einen Riss bekommen hatte, merkte man auch in Schrems selbst:„Der Hauptplatz in Schrems war auf einmal voll von Autos mit tschechischem Kennzeichen. Andersherum sind viele Schremser vor allem nach Prag und Budweis gefahren, wo sie vorher noch nie waren. Da hat sich ein gewisser Austausch herausgebildet, der damals aber noch ein zartes Pflänzchen war. Wir haben indes gehofft, dass sich da noch mehr entwickelt“, so Österreicher.
Hartes Ende für neue Kontakte
Doch mit einem Schlag war das vorbei: In der Nacht vom 20. auf den 21. August marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein und beendeten gewaltsam den Prager Frühling. Wie haben dies jedoch die Österreicher direkt an der Grenze erlebt?
„Ab August 1968 war plötzlich die Meldung im Fernsehen, dass die Truppen des Warschauer Pakts einmarschiert sind und die Grenzen wieder dichtgemacht werden. Das führte natürlich zu Reaktionen bei uns in Österreich. Beispielsweise ist die allgemeine Wehrpflicht um zwei Monate auf elf Monate verlängert worden, worüber sich unsere Jugendlichen nicht gerade gefreut haben. Die Schremser sind dann zum ‚Grenze-Schauen‘ nach Gmünd oder Nagelberg gefahren. Ich selbst bin auch hingefahren. Da stand dann auf österreichischer Seite ein Gendarmerie-Beamter, der bis auf 100 Meter niemanden zur Grenze gelassen hat. Auf der anderen Seite, in České Velenice, stand angeblich ein russischer Panzer.“Die Kontakte, die in den paar Monaten vor dem Einmarsch wachsen konnten, waren also wieder unterbrochen:
„Man hat wieder ein Visum gebraucht, und lange Zeit hat sich keiner herübergetraut. Außer den Grenzbeamten hatte keiner mehr Kontakte auf die andere Seite, die waren allgemein verboten. Anders wurde das erst 1989, als alles lockerer war und auch ich meine ersten Verbindungen nach drüben knüpfen konnte. Man hat gesehen, dass sich da etwas entwickelt.“In der Wendezeit war Österreicher dann Bürgermeister in Schrems. Er regte dabei eine Reihe von Kooperationen mit Nachbarn an, vor allem mit der späteren Partnerstadt Třeboň / Wittingau. Und diese Verbindungen blühen bis heute, man besucht sich und tauscht sich aus.
Flucht, bevor es zu spät ist
Nach dem 21. August 1968 erhielten zahlreiche Tschechoslowaken Visa für Österreich, viele flohen so in den Westen. Laut Reinhard Österreicher kann man das aber nicht mit den Flüchtlingsströmen von heute vergleichen:„Fluchtversuche hat es schon vorher gegeben, zwei davon waren sehr spektakulär. Einmal wollte eine Familie auf die andere Seite kommen, und ihnen wurde sogar hinterhergeschossen. Dabei wurde das österreichische Zollhaus getroffen. Ein Beamter hat die andere Seite angeschrien, ob sie denn verrückt seien. Der Fluchtversuch ist gut ausgegangen, die Familie ist bis auf eine Tochter zu uns gekommen. Das Kind wurde später durch das Rote Kreuz über die Schweiz und Wien nach Gmünd gebracht.“
Gerade in Gmünd war die Lage ein wenig anders. Die Stadt liegt direkt an der Grenze, ein ehemaliges Viertel von Gmünd liegt sogar im heutigen Tschechien. Andreas Reiter ist am Eisernen Vorhang aufgewachsen:
„Wir sind 1967 von Litschau nach Gmünd gezogen, weil mein Vater da eine Dachdeckerei übernommen hat. Dazu hat er in Gmünd in der Litschauer Straße gleich das erste Haus gemietet, das rund 100 Meter von der Grenze entfernt war. Somit haben wir direkt am Stacheldraht gewohnt, und für uns war das eigentlich nichts Besonderes.“
Als Kind habe man das nicht so registriert, dass man an einer der gefährlichsten Grenzen Europas gewohnt habe, so der Bankmitarbeiter Reiter. Obwohl die Gefahr natürlich spürbar war:„Man hat durchaus Schüsse in der Nacht gehört von den Selbstschussanlagen. Diese konnte man vom Rad aus auch sehen, wenn man daran vorbeigefahren ist. Was die Anlagen mehrfach auslöste, das wussten wir eigentlich nicht. Nachrichten aus Tschechien sind ja nie nach Gmünd durchgedrungen. Für uns Kinder war da drüben einfach die Welt zu Ende.“
Auch in Gmünd merkte man 1968, dass es lockerer geworden war auf der anderen Seite. Doch ebenso das Ende des Prager Frühlings bekam man hautnah mit. Andreas Reiters Mutter dürfte wohl einer der Ersten in Österreich gewesen sein, die etwas von den tragischen Ereignissen in der Tschechoslowakei mitbekamen:
„Meine Mutter hat mir das vor einigen Tagen noch erzählt. Ende August 1968 hat sie nebenbei noch die Landwirtschaft in Litschau betrieben. Spät am Abend des 20. August ist sie mit dem Moped von Litschau nach Gmünd gefahren. Sie wunderte sich, dass in Tschechien auf einmal viele Leuchtraketen hochgegangen sind. Das war so der erste Eindruck, den man von irgendwelchen Ereignissen bekommen hat. In der Folge erfuhren wir, dass der Umbruch beim Nachbarn niedergeschlagen worden war und dass die Grenzbefestigungen wieder verstärkt worden sind.“Vom Grenzposten in die Freiheit
Die Familie sollte jedoch schon bald direkt in die Geschehnisse involviert werden. Es geschah nach Weihnachten 1968:
„An einem Abend zwischen Weihnachten und Neujahr hat es bei uns an der Tür geklopft, und da stand dann ein verschreckter tschechischer Soldat mit umgehängtem Gewehr vor uns. Mit den wenigen Worten Deutsch, die er gesprochen hat, erklärte er uns, dass er den Grenzposten auf tschechischer Seite verlassen hat, also quasi desertiert ist. Aus unserem kurzen Gespräch haben wir interpretiert, dass er im Rahmen seines sehr langen Grundwehrdienstes an die Grenze versetzt worden war. Mit seinem einzigen Verwandten in Tschechien, seiner Mutter, war es dann so abgesprochen, dass er in den Westen fliehen sollte.“Der Vater von Andreas Reiter brachte den tschechoslowakischen Soldaten auf die Gendarmerie:
„Mein Vater hat ihm dann mit Händen und Füßen erklärt, dass er ihn zum Gendarmerie-Posten bringen wird. Wir hatten damals nur ein Auto, es war ein VW-Bus vom Betrieb meines Vaters mit viel Platz vorne am Beifahrersitz. Der Soldat hat sich an der Grenze natürlich gut ausgekannt. Als wir direkt an den Grenzposten vorbefahren mussten, rutschte der Mann samt seiner Maschinenpistole in den Fußraum, damit ihn ja niemand sieht.“
Der junge Soldat habe Angst gehabt, dass sein Vater ihn direkt wieder zurück zu seinem Posten bringt, erzählt Andreas Reiter. Was danach mit dem jungen Mann geschah, das weiß der Waldviertler nicht. Man habe danach nichts mehr von ihm gehört, so der Bankmitarbeiter.
Die Jahre vergingen, die Tschechoslowakei blieb auch für Andreas Reiter lange ein Geheimnis. 1989 kam jedoch die Wende, und der Eiserne Vorhang war endgültig offen. Und mit großer Neugier fuhr man nun nach drüben:
„Ich bin kurz nach der Grenzöffnung mit einem Kollegen nach Budweis gefahren. Das war schon ein eigenartiges Gefühl. Viele Leute haben sich damals noch nicht nach Tschechien getraut. Es gab große Befürchtungen, dass noch irgendetwas passiert.“