„Alles war reine Improvisation“
Der Kommentator und Charta-77-Unterzeichner Bohumil Doležal erinnert sich an 1989 und die Jahre danach.
„Unterschrieben habe ich gleich nach der Veröffentlichung der Charta 77. Ich gehörte aber nicht zu den führenden Persönlichkeiten, ich war einfach einer von den 242 Menschen, die die Charta in der ersten Phase unterzeichnet haben.“
Wo haben Sie damals gearbeitet? In Ihrem ursprünglichen Beruf durften Sie zu der Zeit ja nicht mehr tätig sein…
„Ursprünglich war ich Literaturkritiker. Ich habe in den 1960er Jahren in der literarischen Zeitschrift ,Tvář‘ gearbeitet, die von den Kommunisten sogar zweimal verboten wurde. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes von 1968 hatte ich Berufsverbot. Als die Charta 77 entstand, arbeitete ich als Programmierer in einem großen Prager Unternehmen. In den Kreisen der Charta war ich in einer kleinen Gruppe tätig, die ein wenig anders orientiert war als die Leute um Václav Havel. Wir konzentrierten uns auf die politische Pluralität in der Tschechischen Republik, nicht auf die Menschenrechte allgemein, sondern auf die politischen Strukturen. Deshalb haben wir 1987, als das Regime schon instabil war, eine unabhängige Initiative gegründet: die ,Demokratische Initiative‘, die politisch orientiert war. Die Leute von Charta waren ein wenig isoliert von der Bevölkerung, und wir wollten auch Menschen außerhalb der Charta ansprechen. Zudem haben wir uns bemüht, soweit es möglich war, schon politisch zu arbeiten. Eine Woche vor dem Sturz des kommunistischen Regimes haben wir das kommunistische Innenministerium gebeten, unsere ‚Demokratische Initiative‘ als liberal-demokratische Partei anzuerkennen. Sie sollte außerhalb der damaligen Nationalen Front stehen. Während die Dissidenten und allgemein die Gesellschaft hierzulande damals noch überhaupt nicht auf die Übernahme politischer Verantwortung vorbereitet waren, haben wir uns bereits mit den künftigen politischen Strukturen beschäftigt. Dies führte zu einer gewissen Spannung zwischen uns und Václav Havel – und das hat später das Schicksal der Initiative beeinflusst.“
Wie haben Sie die Tage der Wende im November 1989 erlebt?„Wir haben an den Massendemonstrationen teilgenommen, aber als Normalbürger. Wir haben also auf keinem Balkon geredet. Wir haben politische Kleinarbeit in der Öffentlichkeit gemacht. Zugleich haben wir uns bemüht, die Struktur der ‚Demokratischen Initiative‘ zu festigen und neue Mitglieder zu gewinnen.“
Sie sind Abgeordneter der damaligen Föderalversammlung geworden, die es bis zur Auflösung der Tschechoslowakei gegeben hat. Wie war die Arbeit im Parlament?
„Auf die Rolle eines Abgeordneten war ich nicht vorbereitet. In der Föderalversammlung, die zu kommunistischen Zeiten nur eine Art Marionettentheater war, gab es damals keine Infrastruktur. Wir hatten keine Büros, keine Räumlichkeiten zur Verfügung. Alles war reine Improvisation. Ich erinnere mich nicht gern an diese Zeit. Zwei Jahre lang war ich dort. Zuerst wurde ich für das Bürgerforum kooptiert, dann wurde ich bei den Wahlen 1990 gewählt. Nach der Zeit als Abgeordneter habe ich ein Jahr lang als Berater beim damaligen Premier Václav Klaus gearbeitet. Aber bald bin ich zum Schluss gekommen, dass mir viel näher liegt, Artikel und Kommentare für Zeitungen zu schreiben und an der Karlsuniversität zu unterrichten.“
Haben Sie das politische Geschehen auch für ausländische Medien kommentiert?„Ja schon. Ich habe für die FAZ, die Welt und gelegentlich auch für andere deutsche, polnische und ungarische Zeitungen geschrieben.“
Schreiben keine Kommentare mehr für ausländische Tagespresse?
„Um offen zu sein: nein. Ich habe keine Zeit dafür und konzentriere mich darauf, was hier vor sich geht. Ich schreibe für tschechische Internetzeitungen und für das Magazin Echo. Bis vor etwa fünf Jahren habe ich meine Kommentare auch in den größten tschechischen Tageszeitungen wie der Mladá fronta Dnes und der Lidové noviny veröffentlicht sowie im Magazin Reflex.“
Es ist teils schwierig, Menschen im Ausland zu erklären, was sich in Tschechien auf der politischen Bühne in letzter Zeit abspielt. Der Wahlsieger Andrej Babiš wird in den ausländischen Medien oft mit Berlusconi verglichen. Halten Sie diesen Vergleich für treffend?
„Meiner Meinung nach ist das allzu vereinfachend. Herr Babiš ist eine seltsame und sehr originelle Erscheinung, und zwar aus dem Grund, weil er Besitzer eines Großkonzerns ist. Zweitens ist er Eigentümer von zwei wichtigen tschechischen Tageszeitungen, und drittens hat er eine verhältnismäßig starke politische Bewegung hinter sich. Es handelt sich um einen Komplex politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht. Ich würde sagen, dass Babišs Gewicht in der tschechischen Politszene viel größer ist, als dies auf Berlusconi in Italien zugetroffen hat.“Wie erklären Sie sich, dass er trotz einiger Skandale so hohe Popularität genießt?
„Er ist der typische Fall eines falschen Erlösers. Die Politik war bei uns zuletzt ein wenig kompromittiert. Viele Menschen waren nach der Wende davon überzeugt, Politik sei das, was sie aus der kommunistischen Zeit kannten. Auch Václav Havel hatte ein großes Misstrauen gegenüber der Politik. Politik wurde als etwas Überholtes angesehen, was man neu begründen müsste. Das waren ein wenig revolutionäre Theorien. Und Herr Babiš hat die Stimmung der Menschen sehr geschickt ausgenutzt.“
Sie haben das Misstrauen gegenüber den Parteien erwähnt, das hierzulande immer noch weit verbreitet ist. Nach der Wende musste nicht nur das politische System, sondern auch das Wirtschaftssystem umgestaltet werden. Ist dieser Neuanfang gelungen?„Bei uns waren 40 Jahre lang das Privateigentum und das freie Unternehmertum praktisch verboten. Die Menschen hatten zwischenzeitlich vergessen, was das ist und was das bedeutet. Der Neuanfang war schwierig. Denn bei den unternehmerischen Aktivitäten waren bestimmte gesellschaftliche Gruppen bevorzugt: Zum einen waren dies die kommunistischen Manager, die in den postkommunistischen Firmen noch eine große Rolle spielten. Zum anderen waren es Leute, die während der kommunistischen Zeit zu viel Geld gekommen waren. Und das war nur auf illegale Weise möglich gewesen. Diese beiden Gruppen überdeckten sich teilweise. Auch Herr Babiš gehört zu diesem privilegierten Teil der Gesellschaft. Er hat zudem festgestellt, dass die Politik seinen wirtschaftlichen Unternehmungen hilft und dass andersherum mit einer guten ökonomischen Grundlage einfacher Politik zu machen ist. In einem normalen demokratischen System ist es nicht erlaubt, dass sich die unternehmerische mit der politischen Tätigkeit in einem solchen Maße deckt.“
Wo liegen die Ursachen für das Versagen der traditionellen politischen Parteien in Tschechien?„In den 1990er Jahren und auch noch später war es schwierig, wieder eine übliche Parteienstruktur aufzubauen. Das Misstrauen der Bürger gegenüber den Parteien ist auch daran zu erkennen, dass diese vergleichsweise wenige Mitglieder haben. Sie sind vielmehr politische Klubs, die ihren Mitgliedern die Türen zu einer politischen Karriere öffnen. Diejenigen, die einer Partei beitreten, versprechen sich oft auch nichts anderes davon. Die Politik spielt hierzulande eine sehr vereinfachte Rolle. Wenn eine Partei nur 2000 und nicht 200.000 Mitglieder hat, ist sie leichter zu manipulieren.“