Tschechen auf Spitzbergen: „Die Arktis lädt mich mit Energie auf“
Man würde es kaum in Mitteleuropa erwarten: ein Zentrum für Polarökologie. Tatsächlich befindet sich eines an der Südböhmischen Universität in České Budějovice / Budweis. Seine Mitarbeiter und Studenten brechen alljährlich auf zu einer Expedition in die Arktis. Auf der Inselgruppe Spitzbergen führen sie ihre Forschungen durch.
Die tschechischen Forscher leben dort zu einem Teil in Longyearbyen, der Inselhauptstadt von Svalbard oder Spitzbergen. Zum Teil aber auch in der Forschungsstation, etwa 60 Kilometer von der Zivilisation entfernt. Noch bevor die Wissenschaftler zu ihren Erkundungen aufbrechen, müssen sie aber lernen, sich in der arktischen Wildnis zurechtzufinden. Ohne Gewehr ist dies kaum möglich. Eine Gefahr stellen nämlich die Eisbären dar, sagt Expeditionsleiter Martin Lulák:
„Wenn ein Eisbär sich nähert, muss man ihn erschießen. Man muss aufmerksam sein, den Bär beobachten und handeln, wenn er sich in Bewegung setzt.“
Allgemein ist das Töten von Bären allerdings verboten: Man darf nur in Selbstverteidigung schießen. Und zwar erst, wenn der Bär nur noch weniger als 40 Meter von der bedrohten Person entfernt ist.
„Bei jeder Schussverletzung an einem Bären wird eigentlich wie bei einem Mord ermittelt. Es trifft ein Ermittlungsteam ein und rekonstruiert den Fall.“Die Wissenschaftler aus Budweis sind in mehreren Bereichen tätig. Eine Gruppe erforscht Parasiten bei Fischen und Knorpelfischen. Gefangen und später seziert werden aber auch etwa Feldmäuse, eine Tierart, die erst im vergangenen Jahrhundert in die Arktis eingeschleppt wurde. Marek Brož studiert medizinische Biologie an der Südböhmischen Universität:
„Die Feldmaus ist ein Zwischenwirt des Fuchsbandwurms. Dieser kann eine Gefahr für den Menschen darstellen. Sein Wirt, der Polarfuchs, durch seinen Kot kann etwa das Wasser in einem Bach kontaminieren. Wenn man dieses danach trinkt, kann der Wurm in den Verdauungstrakt des Menschen geraten. Er bildet dann Zysten an der Leber, die für Menschen gefährlich sind.“
Außerdem beobachten die Südböhmen die Küstenseeschwalbe. Sie gilt als der Zugvogel mit der längsten Reisestrecke überhaupt: Sie brütet in der Nordpolarregion und überwintert in den Südpolarregionen. Tereza Hromádková ist Ornithologie-Studentin in Budweis:
„Diese Vögel nisten in extremen arktischen Bedingungen. Die Temperatur liegt hier im Sommer bei fünf Grad. Sie sind aber imstande, im Nest eine um 20 Grad höhere Temperatur zu halten. Dort verbringen sie bis zu 98 Prozent ihrer Zeit.“Wie die Tschechen festgestellt haben, bevorzugen die Küstenseeschwalben auf Spitzbergen Nistplätze in der Nähe von menschlichen Siedlungen. Und zwar trotz der Tatsache, dass sie dort von Menschen gestört werden, und ihr Schlaf wesentlich kürzer ist als weiter in der Tundra. Durch die Menschen sind sie nämlich vor Fressfeinden, vor allem vor Eisbären, besser geschützt.
Bei einer Temperatur von minus 18 Grad, einige Meter unter der Erdoberfläche und etwa 3000 Kilometer von Tschechien entfernt: Dort werden rund 400.000 Samen tschechischer Pflanzen gelagert. Oleg Ditrich von der Südböhmischen Universität in Budweis:
„Wir stehen in einer Höhe von etwa 130 Metern über dem Meeresspiegel. Auch wenn das gesamte Eis auf den beiden Polen auftauen und das Wasser steigen würde, ist in dieser Höhe gewährleistet, dass dieser Ort nicht überflutet wird.“
Insgesamt über zwei Millionen Pflanzen-Proben aus der ganzen Welt werden in großen Sälen und Gängen in einer ehemaligen Kohlegrube aufbewahrt.
„Dieser Ort ist einzigartig. Es drohen hier keine Erderschütterungen. Außerdem liegen die Räume im Permafrost. Das heißt, wenn es zu einem Umfall im Kraftwerk käme, würde es lange dauern, bis sich der Raum hier aufwärmen würde. Und zwar höchstens auf -3 Grad Celsius, das ist die Temperatur im Permafrost.“
In insgesamt 806 Beuteln je 500 Samen findet man auch die Arten aus Tschechien. Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte, Getreide und ihre wild wachsenden Verwandten. Aber auch Samen von Heilpflanzen und aromatischen Kräutern.
„Jede der aufbewahrten Pflanzarten kann in Zukunft als genetisches Material für die Aussaat von widerstandsfähigen Arten dienen. Diese Alternative ist sicher umweltfreundlicher als der Gebrauch von Pestiziden.“
Die Botanik-Studentin aus Budweis Viktore Brožová arbeitet an mehreren Projekten. Sie interessiert sich für Evolutionsbeziehungen unter den Pflanzen:
„Im Grunde wachsen hier ähnliche Pflanzen wie bei uns. Nur ist die Artenvielfalt wesentlich ärmer. Auf Spitzbergen gibt es insgesamt rund 160 Pflanzenarten, das ist sehr wenig. Bei uns sind es mehrere tausend. Die Arten sind sich aber sehr ähnlich.“
Zum Beispiel drei Löwenzahn-Arten, Wollgräsern oder Leimkräutern begegnet man in der Arktis. Auch Weiden und Birken wachsen dort, reichen aber nur bis zum Knöcheln. Viktorie ist bereits zum zweiten Mal auf Spitzbergen.
„Der Ort lädt mich mit Energie auf. Die Natur hier nimmt einen gefangen. Man fühlt sich hier vitaler als an jedem anderen Ort. Ich habe nie in meinem Leben so etwas erlebt, wobei ich schon manche Orte besucht habe.“