Wie lebt eine tschechische Familie jenseits des Polarkreises?
Eine spektakuläre, aber zu Eis erstarrte Landschaft nördlich des Polarkreises. Das ist Svalbard beziehungsweise Spitzbergen. Die Sozialanthropologin Zdenka Sokolíčková lebt seit 2019 auf der Inselgruppe. Die Tschechin erforscht, wie die Erderwärmung das Leben der dortigen Einwohner beeinflusst. Radio Prag International hat Sokolíčková angerufen und zu ihrem Leben jenseits des Polarkreises befragt.
Zdenka Sokolíčková ist eine derjenigen Tschechen, die sich entschieden haben, einige Jahre im Ausland zu verbringen und danach in ihre Heimat zurückkehren wollen. Sie hat ihre ganze Familie mit nach Spitzbergen genommen. Zum Aufenthalt dort wurde sie durch die Forschungen des norwegischen Sozialanthropologen Thomas Eriksen inspiriert:
„Das Team um Professor Eriksen hat die Auswirkungen der Globalisierung auf unterschiedliche Gesellschaftsgruppen hier untersucht. Die Forscher interessierten sich dafür, in wie weit man die Folgen der immer schnelleren Veränderungen voraussagen kann. Ich fand sein Projekt sehr interessant. Ich arbeite an der Universität in Hradec Králové. Mein Mann ist Polarökologe und hat vor elf Jahren bereits auf Spitzbergen studiert. Er hat über diese arktische Landschaft immer mit Begeisterung und Liebe erzählt und mein Interesse für die Gegend geweckt. Dann dauerte es aber eine gewisse Zeit, bis ich das Geld für ein Forschungsprojekt bekam. Schließlich hat es geklappt. Wir sind im Februar 2019 hier hergezogen. Wir leben hier in einem Städtchen, das etwa 2300 Einwohner hat. Insgesamt sind hier Menschen aus 52 Ländern der Welt.“
Beim Städtchen handelt es sich um Spitzbergens Verwaltungszentrum Longyearbyen. Gerade die Erfahrungen von Zdenkas Mann waren beim Umzug auf die Insel von großer Bedeutung:
„Ohne Jakub wären wir sicher nicht hier. Um auf Spitzbergen leben zu können, muss man bestimmte Dinge wissen. Ich hätte nicht einmal gewusst, wie wir unsere Sachen hier herbekommen. Wir wären nicht imstande gewesen, eine Wanderung zu machen. Denn wenn man sich außerhalb der bebauten Gebiete bewegt, muss man sich an ziemlich strenge Regeln halten, weil man Eisbären begegnen kann. Im Bereich der Anthropologie arbeite ich aber selbständig, mein Mann macht hier seine eigene Arbeit.“
Die Familie wird im Sommer dieses Jahres nach Tschechien zurückkehren. Und keinesfalls mit leeren Händen…
„Für die Öffentlichkeit wird der Dokumentarfilm interessant sein, der seit Beginn des Projekts gedreht wird. Die Regisseurin Veronika Lišková leitet ihn in tschechisch-slowakisch-norwegischer Koproduktion, der Streifen soll 2022 in die Kinos kommen. Es ist ein Doppelporträt – einerseits die wissenschaftliche Seite unseres Aufenthalts, andererseits aber auch unser Familienleben hier. Und dann wird es wissenschaftliche Outputs geben, das heißt Fachartikel, an denen ich arbeite. Ich hoffe, dass es mir auch gelingt, eine Monografie auf Englisch zu veröffentlichen. Das wird aber mindestens bis kommendes Jahr dauern.“
Im Garten bei -24 Grad Celsius
Zdenka Sokolíčková lebt mit ihrer ganzen Familie auf Spitzbergen. Für ihre Söhne ist die Insel mittlerweile schon ein zweites Zuhause…
„Als wir hier angekommen sind, war der älteste Sohn fünf Jahre alt und der jüngste elf Monate. Wir haben drei Jungs. Heute ist der älteste knapp acht Jahre alt und geht in die zweite Klasse. Der mittlere ist fünf und besucht noch den Kindergarten. Und der jüngste Sohn wird im März seinen dritten Geburtstag feiern. Das bedeutet, dass er schon das zweite Jahr infolge eine Kindertagesstätte besucht. Denn hier beginnt die Betreuung für Kinder bereits ab dem ersten Lebensjahr. Für Adam war der Start mit 17 Monaten, das war sicher nicht einfach für ihn. Wir kamen im Februar hier an, draußen waren etwa minus 24 Grad Celsius. Er kam in den Kindergarten, in dem es üblich war, eine oder zwei Stunden täglich draußen im Garten zu verbringen. Auch das Mittagessen wird bei diesem Wetter manchmal draußen gegessen. Und natürlich eine neue Umgebung, neue Menschen und eine andere Sprache.“
Jedes der Kinder habe sich anders damit auseinandergesetzt, sagt die Mutter.
„Der älteste Sohn spricht in der letzten Zeit oft darüber, dass er das hier nicht verlassen wolle, dass er sich hier eingewöhnt habe. Ihm gefällt die Natur, er macht gerne Wanderungen und freut sich darauf, einen Bär zu sehen. Die Realität Mitteleuropas findet er im Moment weniger attraktiv. Der jüngste Sohn spricht fließend Tschechisch und Norwegisch. Wir wollen dafür sorgen, dass er die norwegische Sprache nicht vergisst, obwohl das in Tschechien nicht einfach sein dürfte. Der mittlere Sohn freut sich auf unsere Heimat. Er fragt mich immer, wie viele Tage es noch seien bis zur Rückkehr, weil er die Großeltern sehr vermisst. Wir sprechen oft mit unseren Kindern darüber. Ich bin mir dessen bewusst, dass wir sie in eine schwierige Situation gebracht haben und mit der Abreise von hier in eine weitere bringen werden.“
Die Familie hat sich in Longyearbyen eingelebt und hat dort auch Freunde gefunden.
„Wir waren überrascht, wie schnell wir Freunde hier gefunden haben. Eine Besonderheit der Kleinstadt Longyearbyen ist, dass es hier ein Universitätszentrum gibt. Die Stadt ist sehr klein, hat aber viele Eigenschaften einer Großstadt. Dazu gehört die Uni-Atmosphäre, da wird Englisch gesprochen. Wir konnten zu Anfang noch kein Norwegisch. Daher war es für uns einfacher, Freunde zu suchen, die fähig und bereit waren, mit uns Englisch zu sprechen.“
Das Leben ist bequem
Das Leben jenseits des Polarkreises werde maßgeblich durch das Klima bestimmt, erzählt die Tschechin:
„Entscheidend ist der Wechsel von Polartag und Polarnacht, die jetzt gerade zu Ende geht. Der Anruf von Radio Prag International kam in der schwierigsten Zeit, die jetzt von einer hoffnungsvolleren abgelöst wird, wenn das Licht langsam zurückkehrt. Wenn man zu Mittag hinausgeht, ist der Himmel schon dunkelblau, nicht mehr schwarz. Das ist eine große Veränderung. Ansonsten würde ich sagen, dass manche Menschen vielleicht enttäuscht sind, wenn sie sehen würden, wie bequem das Leben hier ist. Wir haben zwar nur einen Supermarkt in Longyearbyen, er ist aber groß und wird gerade noch erweitert. Zudem gibt es weitere Geschäfte, eine Schule und eine Kirche. Das Angebot an Kultur und Sport ist hier groß. Momentan sind diese Aktivitäten aber wegen der Maßnahmen gegen die Pandemie eingeschränkt. Allerdings entwickelt sich die Corona-Lage in Norwegen besser als in Tschechien.“
Die Anthropologin erforscht, wie das Klima das Leben der Einwohner im äußersten Norden Europas beeinflusst. Die Häuser, die man dort baut, sind ein Beispiel…
„Das Bauverfahren ist von den fortschreitenden Klima-Veränderungen beeinflusst. Denn hier auf Spitzbergen herrscht Permafrost, der Boden hier ist dauerhaft gefroren und hat darüber eine aktive Schicht, die regelmäßig auftaut. Diese Schicht wird mit der Erwärmung dicker. Das bedeutet, dass es schwierig ist, Häuser aus Ziegeln oder Beton zu bauen wie in Tschechien. Das Baumaterial muss elastischer sein. Das heißt, es werden Holzpfähle tief in den Boden gebohrt, und darauf stehen Holzhäuser. Diese Technik musste aber in der letzten Zeit modifiziert werden. Die Pfähle aus unterschiedlichem Material müssen viel tiefer in den Boden gebohrt werden als früher, bis auf zehn bis zwölf Meter tief, da die aktive Schicht des Dauerfrostbodens immer dicker wird.“
In einem Land, in dem die Außentemperaturen viel tiefer liegen als in Mitteleuropa, überrascht die Wärme in den Häusern.
„Die Innentemperaturen in den Häusern sind überraschend hoch. Zudem sind viele Häuser schlecht isoliert. Die Stadt wurde 1906 gegründet, sie hat eine kurze Geschichte. Ursprünglich wollte man eine Bergbaustadt ohne ständige Besiedlung. Die Häuser wurden für dreißig Jahre gebaut. Viele Gebäude aus den 1960er bis 1980er Jahren sind schlecht isoliert, es wird also viel Energie verschwendet. Das haben wir gleich am Anfang unseres Aufenthalts hier bemerkt. Die städtischen Behörden versuchen, diesen Fehler zu beheben. Wir heizen hier immer noch mit Steinkohle. In der vergangenen Woche hat die norwegische Regierung in Oslo aber signalisiert, dass die Zeit des Kohlekraftwerks nun zu Ende geht – es ist übrigens das einzige in Norwegen. In den nächsten zwei bis fünf Jahren soll es geschlossen werden. Geplant ist, alternative Energiequellen zu erschließen. In der Stadt wird momentan eine eifrige Diskussion darüber geführt, ob das eine gute Idee ist.“
Eine Begegnung mit Walen
Die Familie Sokolíček ist im Übrigen nicht die einzige tschechische Familie auf Spitzbergen.
„Offiziell leben hier 15 Tschechen. Fünf von ihnen sind wir. Aber die Zahl stimmt wohl nicht ganz genau. Wir kennen die meisten Tschechen, die hier dauerhaft oder vorübergehend leben. Viele Menschen arbeiten hier nur saisonbedingt im Tourismus, sie kümmern sich etwa um die Schlittenhunde, sind Touristenführer oder arbeiten in der Gastronomie. Außerdem wird eine tschechische Forschungsstation betrieben, die Wissenschaftler kommen für mehrere Monate dort hin. Und dann gibt es hier noch einen Tschechen, der dauerhaft mit seiner Familie in Longyearbyen lebt. Er arbeitet als Geologe im Universitätszentrum. Mit dieser Familie sind wir befreundet. Es war eine nette Überraschung, dass unser ältester Sohn in der Schulklasse jemanden finden konnte, mit dem er Tschechisch sprechen kann.“
Zdenka Sokolíčková wird in ein paar Monaten Svalbard verlassen. Welche Erinnerungen wird sie mit nach Hause nehmen?
„Ich mag Longyearbyen. Aber viele Menschen, und ich gehöre zu ihnen, lieben am meisten das, was sich außerhalb der Stadt befindet. Die Begegnung mit der hiesigen Natur ist ein intensives Erlebnis. Ich denke da etwa an unseren Schiffsausflug Ende August: Wir fuhren in ein verlassenes russisches Bergdorf, das man nun durch den Tourismus wiederbeleben will. Auf dem Weg haben wir drei Arten Wale gesehen. Die Kinder waren begeistert. Für mich sind die stärksten Erlebnisse immer diejenigen, die ich vermittelt bekomme, wenn ich das Staunen und die Begeisterung meiner Kinder beobachten kann. Danach sind wir etwa fünf Kilometer zu Fuß gewandert, um eine tschechische Forschungsstation zu besuchen. Die Wanderung durch die arktische Wüste und Tundra, der Blick auf den Gletscher, der immer kleiner wird – das waren die stärksten Momente, die mir nun in den Sinn kommen.“