Wenn Zeitzeugen erzählen: Audioguide erläutert Geschichte von Liberec
Bereits seit mehreren Jahren lässt sich die Geschichte der nordböhmischen Stadt Liberec, auf Deutsch Reichenberg, nicht nur aus Büchern erfahren. Eine Gruppe von Jugendlichen hat die Erinnerungen von Zeitzeugen aufgenommen, und diese erzählen über die Ereignisse vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Aufnahmen dienen als Audioguide für einen Spaziergang durch die Stadt.
Der Bahnhof ist eine der zehn Stationen des Rundgangs durch Liberec, der durch die Stimme der Zeitzeugen lebendig wird. Die Aussagen kann man sich von der Webseite des Projektes auf das Handy laden. Man kann sich aber auch ein Audiogerät in der Stadtbibliothek ausleihen.
Gymnasiasten stellen Fragen
Die Idee, einen solchen Rundgang zu schaffen, entstand vor etwa fünf Jahren. Damals kam eine Gruppe von Studierenden zum Schluss, dass die jüngste Geschichte von Liberec immer noch ein Tabu sei. So als ob niemand wissen wollte, was vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in der Stadt geschehen sei. Daher boten sie Schülern eines örtlichen Gymnasiums die Möglichkeit, mit noch lebenden Zeitzeugen über die wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhundert zu sprechen. Die Gymnasiasten legten sich begeistert ins Zeug, und am Ende waren rund 45 Schüler an dem Projekt beteiligt. Die Aufgabe stellte sich aber als unerwartet schwierig heraus, sagt Zuzana Koňasová, die Sachkoordinatorin des Projekts:„Andere Menschen hatten kein Interesse an unserem Projekt. Die Vertriebenen wollten nicht, dass die alten Wunden wieder aufreißen. Die hier lebenden Menschen hatten Angst, die deutsche Vergangenheit der Stadt und die Vertreibung der Deutschen anzusprechen. Mich hat überrascht, dass Zeitzeugen aus Liberec eine Mitarbeit ablehnten, als sie erfuhren, wer noch an dem Projekt beteiligt sein wird. Eine solche Feindseligkeit hatte ich nicht erwartet. Schließlich ist es uns gelungen, Gespräche mit insgesamt 38 Zeitzeugen in Deutschland aufzunehmen. Für unser Projekt konnten wir aber nur zwei verwenden. Trotzdem sind alle Aussagen wertvoll und stellen eine einzigartige Dokumentation dar. Ich möchte alle diese Erzählungen schriftlich zusammenzufassen und der Bibliothek in Liberec anbieten. Damit sollen sie den künftigen Generationen zur Verfügung stehen.“
Überall in den Sudetengebieten wurde die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg komplett ausgetauscht. An Stelle der vertriebenen Deutschen trat eine bunte Mischung von Menschen: Enthusiasten und Goldgräber aus dem böhmischen Binnenland, Tschechen vom Balkan, später auch Roma aus der Slowakei. Liberec war davon im Vergleich zu anderen Städten noch stärker betroffen. Die Stadt war seit dem 14. Jahrhundert sehr reich gewesen, was sich auch in ihrem deutschen Namen Reichenberg spiegelt. Der tschechische Name Liberec tauchte erst im 19. Jahrhundert auf. In der Zwischenkriegszeit wurde die Stadt zum Zentrum des deutschen Widerstandes gegen die Tschechoslowakei. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 war das damalige Reichenberg die Hauptstadt des sogenannten Sudetengaus innerhalb des Deutschen Reiches. Das alles trug dazu bei, dass die „Tschechisierung“ der Stadt nach 1945 sehr gründlich vorangetrieben wurde: Im Prinzip verschwand alles, was an die deutsche Geschichte erinnerte. Jan Šolc war einer der wenigen, die für das Projekt darüber reden wollten. Dazu muss man an der Station „Der Wilde Osten“ das Audiogerät einschalten.„In meiner Kindheit habe ich die Deutschen mit einer weißen oder roten Binde am linken Ärmel gesehen. Wenn sie eine rote Binde trugen, dann waren das deutsche Kommunisten oder Sozialisten, also Antifaschisten. Diejenigen, die eine rote Binde hatten, durften mit der Straßenbahn fahren und Restaurants besuchen. Das war also dann einer von uns, der einen Persilschein bekommen hatte. Dann gab es Deutsche, die eine weiße Binde trugen. Die durften nicht mit der Straßenbahn fahren und mussten zu Fuß gehen. Der Zutritt zu öffentlichen Gebäuden war ihnen untersagt. Das war ein Akt der Rache. Aber unter ihnen waren auch Deutsche, die auf der weißen Binde ein schwarzes „P“ – wie „pracující“ zu Deutsch: Arbeiter –und ein Stempel des Nationalausschusses trugen. Das bedeutete, ihnen war es erlaubt, sich frei in der Stadt zu bewegen.“Kein Kontakt erwünscht
Es gibt heute nur wenige Menschen, die in Reichenberg geboren wurden und weiterhin in Liberec leben. Einer von ihnen ist Rudolf Pilař – ein Mann aus einer deutsch-tschechischen Familie. Seine Erzählung bringt mich zur „Česká beseda“ – einem Haus abseits des regen Stadtzentrums, das einst eine tschechische Insel im deutschen Meer war. Die Aufnahme lässt die nationalen Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen wieder aufleben, die in den 1940er Jahren ihren tragischen Höhepunkt erreichten. Rudolf Pilař war davon auch persönlich betroffen – er musste in einem Rüstungsbetrieb in Berlin Zwangsarbeit leisten, weil der damalige Protektoratsminister Emanuel Moravec einen ganzen Jahrgang junger tschechischer Männer dem nationalsozialistischen Deutschland als Arbeitskräfte versprochen hatte. Einen weiteren Halt mache ich beim Kino Varšava – da macht der Guide auf Isa Engelmann aufmerksam. Die Frau ist zwar 1936 im indischen Bombay geboren, den Zweiten Weltkrieg verbrachte sie aber in Reichenberg. Obwohl die ganze Familie die britische Staatsangehörigkeit hatte, musste sie nach dem Krieg die Tschechoslowakei verlassen. Jahrzehnte lang lebte sie dann in Italien. Eines Tages entschied sie sich, in die Stadt ihrer Kindheit zurückzukehren. Die Suche nach ihrer Identität hat sie in ihrem Buch „Blauer Flieder“ beschrieben, das auch ins Tschechische übersetzt wurde. Die Rückkehr war für Isa Engelmann aber nicht einfach, erläutert Zuzana Koňasová:„Die Gedenktafel ist hier am Kinogebäude angebracht, weil die Menschen, die heute in dem Kindheitshaus von Isa Engelmann leben, keinen Kontakt mit den ehemaligen Bewohnern wünschen. Wir haben mit ihnen lange verhandelt, damit das Haus ein Teil unseres Rundgangs wird. Letztlich haben sie das jedoch abgelehnt. Wir mussten also einen anderen Ort suchen – und das Kino hat sich als passend erwiesen. Ich wäre auch bereit gewesen, hier Gedenktafeln für weitere Persönlichkeiten anzubringen, falls man sie anderswo abgelehnt hätte. Dazu ist es Gott sei Dank nicht gekommen, auch wenn das belastete Verhältnis zur Geschichte der Stadt auf Schritt und Tritt zu spüren ist.“Den Rundgang „Liberec – Reichenberg“ haben bereits mehrere Tausend Interessenten absolviert, die etwas über die komplizierte Geschichte der Stadt unter dem Jeschken erfahren wollten. Sie ist die erste Stufe des Projekts „Das lebende Gedächtnis“. Bald soll auch ein Rundgang durch Liberec als „Stadt der Musen und des Grauens“ folgen. Dabei werden Märchen aus und über Liberec vorgestellt, wie „Die kleine Hexe“ von Ottfried Preußler oder „Der Teufel auf dem Jeschken“ von Jakub Patočka. Auch die Route „Die Lungen von Liberec“ ist geplant. Die Umgebung der Stadt ist von dichten Bergwäldern geprägt, wo sich in der Vergangenheit zahlreiche tragische, aber auch heitere Geschichten abgespielt haben. Diese warten nur darauf, ans Licht gebracht zu werden. Wenn alles klappt, soll schon im kommenden Jahr ein weiterer Rundgang gestartet werden.