„Wahrnehmung der Visegrád-Länder entspricht nicht der Realität“ – Radko Hokovský vom Think Tank „Europäische Werte“
Der Visegrád-Gipfel hat in dieser Woche große Aufmerksamkeit erhalten. In den deutschen Medien war im Vorfeld von Rebellion oder einem Aufstand gegen Kanzlerin Merkel die Rede. Das Ergebnis des der Zusammenkunft war keine offene Konfrontation, sondern ein „Plan B“. Warum aber vertreten Tschechien, Polen, Ungarn und die Slowakei gerade in der Flüchtlingskrise einen eigenen Kurs? Und wie lässt sich dieser wiederum mit der Idee Europa vereinbaren? Dazu ein Gespräch mit dem Politologen Radko Hokovský. Er leitet den Prager Think Tank namens „Europäische Werte“ (Evropské hodnoty).
„Weil wir diesen Namen haben, brauchen wir natürlich eine klare Definition, denn diese Frage kommt oft. Allgemein gesagt handelt es sich um mehrere liberal-demokratische Grundprinzipien, auf denen die europäischen politischen Systeme basieren, und die zum Teil auch in den Lissabon-Verträgen niedergeschrieben sind. Aber als Essenz würde ich drei Begriffe nennen: Individuelle Freiheit, Menschenwürde und Gleichberechtigung.“
Weshalb wurde die Organisation gegründet, wie sieht Ihre Arbeit aus?
„Wir sind vor elf Jahren entstanden. Ursprünglich war es eine Gruppe von Studenten und jungen Leuten, die sich ein Jahr nach dem EU-Beitritt Tschechiens stärker in der öffentlichen Debatte engagieren wollten. Denn wir haben gemerkt, dass europäische Politik nicht länger eine Angelegenheit ist, über die wir theoretisch etwas lernen, sondern eine Sache, die wir direkt beeinflussen können. Seit dieser Zeit haben wir uns zu einem der sichtbarsten und produktivsten Think Tanks der Tschechischen Republik entwickelt, der sich der europäischen Politik widmet. Unsere Arbeit macht heute ein analytisches Team von etwa 35 Mitgliedern in mehreren Arbeitsgruppen. Wir verfolgen verschiedene Aspekte der Europa-Politik, aber auch, wie die Tschechische Republik ihre Interessen in der Europäischen Union formuliert und durchsetzt.“
“Nach Ansicht der Visegrád-Gruppe kann die Flüchtlingskrise nicht erst auf dem Gebiet der EU gelöst werden.“
Tschechien gehört neben Ungarn, Polen und der Slowakei zu den Visegrád-Ländern. In den vergangenen Jahren war die Gruppe kaum wahrnehmbar, warum hat ausgerechnet die Flüchtlingskrise die Länder wieder zusammengebracht?
„Es hat sich gezeigt, dass die mitteleuropäischen Länder einen anderen Blick auf manche Dinge haben, einerseits auf die Ursachen der Flüchtlingskrise und zugleich auch auf eine mögliche Lösung. Dieser Unterschied zeigt sich vor allem im Vergleich zu Kanzlerin Angela Merkel, die im vergangenen Jahr einen sehr offenen Ansatz präsentiert hat, eine Politik der offenen Türen für Asylbewerber vor allem aus Syrien, und die weiterhin einen verpflichtenden, dauerhaften oder zeitweisen Umverteilungsmechanismus für Asylbewerber in Europa fordert. Damit sind die Länder der Visegrád-Gruppe nicht einverstanden. Sie sind der Ansicht, dass die Einwanderungskrise nicht erst auf dem Gebiet der EU gelöst werden sollte. Vielmehr sollten die wichtigsten Schritte der Prävention bereits vor den EU-Grenzen getan werden, in den Transit- oder aber in den Herkunftsländern.“
Im Vordergrund stehen für die Visegrád-Länder Sicherheitsbedenken. Warum ist das ausgerechnet in den Ländern der Fall, in denen es bislang kaum Einwanderer gibt?„Ich denke, das hängt stark damit zusammen, wie man in Tschechien und den weiteren mitteleuropäischen Ländern in den Medien verfolgt, was in westeuropäischen Ländern passiert. Dort ist die Einwanderung viel stärker, und die Mitteleuropäer, die fast keine Muslime oder Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten in ihren Ländern haben, sehen mit Unverständnis, welche Probleme es in einer Reihe von Städten in Westeuropa gibt. Gerade das Risiko einer nicht beherrschbaren Integration vor allem von Muslimen, und die Probleme, die damit einhergehen – eine Radikalisierung bis hin zu einem gewalttätigen Islamismus und auch Terrorismus – das bestimmt die ost-mitteleuropäische Debatte sehr stark. Zumindest in Tschechien zeigen die Meinungsumfragen, dass die Bevölkerung die Aktivitäten des Islamischen Staats und weiterer islamistischer Gruppen sehr aufmerksam verfolgt. Häufig wird das mit der Einwanderungswelle verbunden. Natürlich entspricht das nicht immer den Tatsachen, und es gibt leider auch Politiker, wie zum Beispiel Präsident Zeman, die falsche Zusammenhänge herstellen. Solche Zusammenhänge bestehen zwar, aber in Mitteleuropa gibt es leider Politiker, die das ausnutzen, indem sie noch größere Angst säen. Nichtsdestotrotz herrscht in Mitteleuropa im Allgemeinen die Ansicht, dass die Einwanderung reguliert werden sollte und dass man der Einwanderung gegenüber sehr vorsichtig sein sollte, solange es keine erprobten Methoden gibt, wie man die Menschen integrieren kann.“
“Die Debatte in Ostmitteleuropa ist bestimmt vom Risiko einer nicht beherrschbaren Integration von Muslimen.“
Beim Visegrád-Gipfel haben die Regierungschefs einen „Plan B“ propagiert, falls es nicht gelingt, dass mit Hilfe der Türkei und Griechenlands bald weniger Flüchtlinge nach Europa kommen: Einen Grenzzaun zwischen Mazedonien und Griechenland. Ist das nicht ein Widerspruch zur europäischen Idee, wenn man Griechenland ausschließt und alleine lässt?
„Ich denke nicht. Denn dieser Vorschlag ist nur eine Alternative, wenn alle anderen Maßnahmen, die derzeit verhandelt werden, scheitern. Es geht nicht darum, eine Grenze in Europa zu schaffen. Es soll vielmehr ein Schutz dagegen sein, dass solche Grenzen unkoordiniert im Herzen von Europa entstehen. Denn wenn sich das Szenario aus dem vergangenen Jahr wiederholt, mit hunderttausenden Menschen, die aus Griechenland über die Balkanroute nach Deutschland wollen, dann wird Deutschland nichts anderes übrig bleiben, als die Grenzkontrollen zu verstärken. Wenn das Abkommen mit der Türkei keine Wirkung zeigt, wird es nötig sein, den Einwanderungsdruck auf der Balkanroute zu regulieren, zum Beispiel an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien. Das hätte natürlich negative Auswirkungen für Griechenland, denn dann würde sich dort kurzzeitig eine große Zahl von Flüchtlingen ansammeln. Wir wissen aber aus Studien über die Einwanderung, dass die Schleuser sehr schnell auf eine neue Situation reagieren. Wenn die Grenzen nach Mazedonien geschlossen wären, würde sich diese Trasse innerhalb einer Woche woandershin orientieren. Der Plan B wäre also nicht dauerhaft, sondern eine Krisenmaßnahme, damit die Balkanländer nicht erneut diesem Druck ausgesetzt sind.“
Am Montag wurde bekannt, dass Tschechien damit beginnt, die im vergangenen Jahr beschlossene Quotenregelung in die Tat umzusetzen. Ungarn und die Slowakei klagen gegen diese Quoten. Ist Tschechien hin- und hergerissen zwischen den wesentlich restriktiveren Ungarn und Slowaken und den Nachbarn im Westen?„Man kann mit Sicherheit sagen, dass Tschechien innerhalb dieser Gruppe am offensten für Kompromisse und gemeinsame Ansätze mit anderen EU-Ländern ist – auch wenn es den Vorschlägen zum Beispiel gar nicht zustimmt. Tschechien hat bei diesem ersten, freiwilligen Verteilungsmechanismus sogar die Aufnahme von Flüchtlingen angeboten, und zwar fast die Zahl, zu der es am Ende verpflichtet wurde. Dennoch ist die gesellschaftliche Ablehnung eines solchen Mechanismus und auch der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Nordafrika fast noch größer als in den anderen drei Ländern, was vielleicht überraschend ist. Man kann also nicht unbedingt erwarten, dass die tschechische Regierung bei ihrem relativ kompromissbereiten Ansatz bleibt.“
“Es ist sehr leicht, eine Haltung zur Flüchtlingskrise als falsch, rückwärtsgewandt, osteuropäisch oder postkommunistisch zu definieren.“
Frankreich hat am Wochenende erklärt, dass es keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen will. Die beschlossene Umverteilung von Flüchtlingen wurde in Gesamteuropa bislang nicht oder nur sporadisch umgesetzt. Dass die Visegrád-Gruppe eigene Strategien verhandelt, wurde in der deutschen Presse aber zum Teil als Affront gewertet. Wird da mit unterschiedlichen Maßen gemessen?
„Ich denke, die Wahrnehmung der Visegrád-Gruppe in Deutschland entspricht nicht ganz der Realität. Es ist sehr leicht, eine Haltung zur Flüchtlingskrise als falsch, rückwärtsgewandt, osteuropäisch oder postkommunistisch zu etikettieren – und im Umkehrschluss damit seine eigene Haltung zu rechtfertigen. Andererseits muss man auch die Äußerungen und Schritte von Premier Fico und Premier Orban sehen, und genauso die Schritte der polnischen Regierung, die die Prinzipien einer liberalen Demokratie immer stärker beschränkt. All diese Dinge passen natürlich in das Konzept, dass Ost- oder besser gesagt Mitteleuropa europäische Werte und die liberale Demokratie in Zweifel zieht. Also, auf der einen Seite ist es verständlich, auf der anderen Seite ist es nicht so, dass die Haltung der Visegrád-Länder komplett mit dem übereinstimmt, was zum Beispiel ein Premier Orban vorbringt, etwa zur Einschränkung der Pressefreiheit oder zur Tätigkeit von NGOs. Ich denke, man muss den Unterschied sehen: Die Einwanderungspolitik steht nicht unbedingt im Widerspruch zu den europäischen Werten. Angesichts der Tatsache, wie oberflächlich man üblicherweise verfolgt, was in Mitteleuropa geschieht, wundert es mich allerdings nicht, dass die Wahrnehmung am Ende darauf zusammenschrumpft, dass Mitteleuropa irgendwie komisch sei – und das eben auch in Bezug auf Einwanderung.“
“Die Haltung der Visegrád-Länder stimmt nicht komplett mit dem überein, was zum Beispiel ein Premier Orban vorbringt, zum Beispiel zur Einschränkung der Pressefreiheit.“
Der Visegrád-Gipfel ist vorbei, es folgt der EU-Gipfel in Brüssel. Das Statement der Visegrád-Gruppe war wesentlich diplomatischer, als dass von manchen Seiten erwartet wurde. Denken Sie, in Brüssel wird es zu einer stärkeren Konfrontation kommen?
„Ich denke, es ist sehr schade, wenn der Fakt, dass sich die Premiers der Visegrád-Gruppe treffen und über Migration sprechen, schon als Positionierung gegen Deutschland oder eine wie auch immer geartete Mehrheitsmeinung der EU gewertet wird. Allein die Tatsache, dass es so wahrgenommen wird, beeinflusst die Atmosphäre der Verhandlungen im Europäischen Rat. Davon abgesehen glaube ich nicht, dass es auf dem kommenden Gipfel zu einem grundlegenden Fortschritt im Bereich Migration kommt. Es wird hauptsächlich um Großbritannien gehen. Natürlich steht die Migration auf der Agenda, aber ich glaube, die Vorschläge der Visegrád-Gruppe werden kaum diskutiert. Das wird wohl eher beim Gipfel im März der Fall sein. So haben es die Visegrád-Premiers auch formuliert, dass der Vorschlag dann besprochen werden könnte – im Fall, dass die derzeitigen Maßnahmen nicht greifen.“