Die Kunst, einen Staat zu konstruieren
Staaten haben einen fundamentalen Einfluss auf das Leben ihrer Bürger und Bürgerinnen. Wie aber entsteht die Bindung zwischen Individuen und Staat? Wie konstituiert sich die Identität einer Nation? Ein Forschungsprojekt setzt sich derzeit mit diesen Fragen auseinander und zeigt auf, wie sich der Tschechoslowakische Staat durch Kunst, Design und Architektur repräsentiert und konstituiert hat.
„Staat und Nation sind nichts Natürliches. Jeder Staat ist konstruiert. Das betrifft nicht nur die Tschechoslowakei. Wenn wir uns die erste Tschechoslowakische Republik von 1918 bis1939 vorstellen, dann ist das Stärkste, das uns entgegentritt, die Konstruktion der tschechoslowakischen Nation. Es sind ja immerhin zwei Sprachen, aber es wurde als eine Nation betrachtet.“
Kunst und Identität
Um diese Identitätsstiftung geht es in dem Forschungsprojekt. Die Grundthese ist, dass Kunst, Design und Architektur eine fundamentale Rolle in der Identitätsbildung der Nation und der Bindung zwischen Bürgern und Staat spielen. Kunst ist demnach nicht nur Dekoration, oder etwas ästhetisch Ansprechendes. Vielmehr kreiert der Staat durch Kunst, Design und Architektur eigene visuelle Welten.„Es ging uns darum zu zeigen, wie visuelle Objekte – viele davon sind hochwertige künstlerische Werke, viele davon auch nicht – an der eigenständigen Konstruktion des Staates und seiner alltäglichen Existenz teilhaben. Es geht um jene künstlerischen Werke, architektonischen Pläne und Design-Objekte, die Objekte des täglichen Gebrauchs sind. Als solche verbinden sie uns im täglichen Handeln, in alltäglichen Entscheidungen mit dem Staat. Indem wir sie verwenden, stimmen wir dem Staat zu, und konstruieren ihn dadurch. Der Staat existiert nur in dieser Form: dass die Bürger sich fortwährend mit ihm verbinden, ihm zustimmen, und ihn damit in der Alltäglichkeit seines Funktionierens erschaffen und erhalten.“
Ausstellung und Publikation
Das Forschungsprojekt hat unter dem Titel „Budování Státu“, „Konstruktion eines Staates“, zu einer Ausstellung in der Prager Nationalgalerie und einer umfassenden Publikation geführt. Der Titel, wörtlich eigentlich „der Aufbau eines Staates“, zeigt wie ungewöhnlich eine konstruktivistische Staatentheorie in Tschechien noch ist.„In unserer kulturellen und intellektuellen Umgebung ist es noch immer sehr notwendig zu betonen, dass der Staat nichts Natürliches ist. Denn der konstruktivistische Zugang ist bei weitem noch nicht verbreitet. Der größte Teil der Bevölkerung hat nach wie vor eine sehr existentielle Auffassung von Nation. Das sehen wir auch heute in der aktuellen Politik. Den Titel „Aufbau eines Staates“ haben wir von einem Buch von Ferdinand Peroutka über die Erste Republik geborgt. Peroutka kommt aber darüber hinaus in der Ausstellung nicht vor. Wir haben den Titel schlicht als tschechischen Begriff für das, was man international konstruktivistischen Zugang nennt: für die Konstruktion des Staates.“
Die Ausstellung spannt einen Bogen von Staatskunst im eigentlichen Sinne, über Design bis Folklore. Ausgestellt sind zum Beispiel Designs von Banknoten und Briefmarken, aber auch Soldatenuniformen, ein Manuskript der Staatshymne, Flaggen, traditionelle Kleider sowie Möbel und Küchenutensilien. Eine wichtige Rolle spielt auch die Architektur:„Ein wichtiger Teil sind Urbanismus und Landschaftsplanung. Denn gerade damit kann der Staat in großem Maßstab seine Stärke beweisen. Zum Beispiel mit dem Bau einer Autobahn.“
Generell geht es in erster Linie um Kunst, Design und Architektur, die vom Staat direkt in Auftrag gegeben wurden.
„Wir haben das Thema so abgesteckt: es geht uns um staatliche Repräsentation. Also wie sich die Tschechoslowakei nach außen repräsentiert hat, oder aber nach innen, also mit Objekten – gemeint sind Gebäude oder Werke – die der Staat in Auftrag gegeben hat. Auch wenn wir natürlich auch einige Werke als Kontrapunkt eingerichtet haben. Es gibt sieben Exponate, die die persönlichen Reaktionen von Künstlern gegen den Staat vorstellen. Aber grundsätzlich geht es um Werke, die vom Staat für die Repräsentation nach Außen und nach Innen bestellt wurden“.Staat und Individuum
Ein wichtiger Punkt ist auch das Zusammenspiel einerseits und die Spannung andererseits zwischen persönlicher Identität und Staatsmacht. Wodurch wurde es erreicht, dass die Bürger sich mit dem Staat identifizierten, und in welchen Punkten und aus welchen Gründen wurde diese Übereinstimmung nicht erreicht. Grundlegende Schwierigkeit war sicherlich, dass die Tschechoslowakei als Nationalstaat konstruiert wurde, obwohl sie ein multi-ethnischer Staat war, mit den zwei großen Gruppen von Tschechen und Slowaken, sowie mit signifikanten deutschen und ungarischen Minderheiten. Dennoch wurde die Identität auf einen Begriff des „Tschechentums“ gebaut, der sich von der österreichischen Fremdherrschaft abgrenzte. Milena Bartlová:
„Das Konzept der Nation spielt eine große Rolle. Die persönliche Identifikation mit dem Staat läuft jedenfalls in Mitteleuropa über die Kategorie der Nation. Es sind Nationalstaaten. Das Verhältnis von persönlicher Identität und Staatsmacht zeigt sich einerseits im Folklorismus. Andererseits drückt es sich in den Objekten des täglichen Lebens aus: Geldscheine zum Beispiel sind ein graphisches Kunstwerk, das wir im Alltag benutzen. Mit diesen künstlerischen Realisationen entsteht eine Identifikation mit dem Staat. Drittens zeigen wir Werke, in denen Künstler subversiv auf Themen regieren, die mit dem Staat zusammenhängen. Manchmal stimmt die persönliche Identität mit dem Staat überein, manchmal muss sie dagegen gehen. Vor allem, wenn der Staat autoritär ist. Das ist die Frage dieses gesamten Zeitraums von 1948 bis 1989.“Ideologie und Kritik
Der Kunsthistorikerin Milena Bartlová ist es ein besonderes Anliegen, Fragen der Ideologie aus dem Forschungsprojekt völlig auszuklammern.„Es ist in unserem historischen Gedächtnis gebräuchlich die Bedeutung und die Werte der Zwischenkriegszeit über zu bewerten und sie wörtlich zu nehmen. Die Zeit der Sozialistischen Republik wiederum, machen wir tendenziell schlecht und nehmen sie nicht ernst. Ein Ziel unserer Ausstellung ist es, zu zeigen: Das muss nicht so sein. Wir können diese Zeit mit historischem Abstand betrachten. Das bedeutet alle ideologischen Themen beiseite zu lassen und das so weit als möglich wertfrei zu betrachten.“
Die kommunistische Ideologie weder beim Wort zu nehmen, noch in eine Gegen-Ideologie zu verfallen – das war die Absicht. Bei diesem Forschungsprojekt ist es jedoch problematisch, Ideologie komplett auszuklammern: Die Konstruktion eines Staates ist immer und notwendigerweise ideologisch aufgeladen. Fragen der Ideologie können bei diesem Thema also unmöglich ausgelassen werden. Wenn die ideologischen Aspekte und Botschaften in den Kunstwerken und in der Identitätsbildung nicht aufgezeigt werden, verfällt man ihnen und verwechselt Ideologie mit Fakten. Die Ausstellung ist aber, trotz gegensätzlichem Anliegen, leider sehr unkritisch ausgefallen. Es werden Objekte und Kunstwerke des alltäglichen Gebrauchs ausgestellt, ohne aufzuzeigen, wie damit ideologisch eine Identität konstruiert wurde. Milena Bartlová hat mit ihrer Forschungsarbeit aber dennoch ein politisches Anliegen:
„Tschechien begreift sich als Nachfolger der Tschechoslowakei und verwendet nach wie vor dieselbe Flagge. Im tschechischen historischen Gedächtnis ist die Tschechoslowakei der eigene Staat der Tschechen. Slowaken wurden da dazugetan, aber als sie sich trennten, trennten sie sich eben. Dieses Selbstverständnis drückt sich in der Übernahme der Flagge und der Hymne aus. Wir zeigen in der Ausstellung auch die Flagge und die Hymne. Da diese in der Tschechoslowakei die gleichen waren, wie in der heutigen Tschechischen Republik, entsteht eine Spannung. Und in dieser Spannung sehen wir, dass die Tschechen die Tschechoslowakei immer als ihren Staat angesehen haben und nie als Mehrvölkerstaat. Das ist mein persönlicher, gegen die aktuelle Politik gerichteter Stachel. Ich würde mich freuen, wenn sich die Menschen dieser Entwicklung bewusst würden.“„Budování státu“, die Konstruktion eines Staates – ein wichtiger Forschungsansatz, bei dem viele interessante und wichtige Fragen aufgeworfen werden. Auch wenn man sich manchmal etwas mehr Mut in der Analyse wünscht.