Vergessene Orte der Zwangsarbeit in der Tschechischen Republik
Die Wahrnehmung von NS-Zwangsarbeit beschränkt sich in Tschechien zumeist auf den Einsatz der eigenen Bevölkerung im Deutschen Reich – etwa die jungen Tschechen, die zum „Totaleinsatz“ nach Deutschland eingezogen wurden. Dass es auch NS-Zwangsarbeiter im eigenen Land gab st bis heute weitgehend unbekannt. Tausende KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene, aber auch Zivilisten aus ganz Europa wurden während des Zweiten Weltkriegs in den sogenannten Sudetengau verschleppt und mussten dort Zwangsarbeit leisten. Aber auch im Protektorat Böhmen und Mähren gab es viele Orte der Zwangsarbeit. Mitarbeiter des „Instituts der Theresienstädter Initiative“ in Prag haben das Thema erforscht und eine deutsch-tschechische Wanderausstellung konzipiert. Sie heißt „Vergessene Orte der Zwangsarbeit in der Tschechischen Republik“ und wird im Frühling eröffnet. Radio hat mit dem Leiter des Projekts, dem Historiker Alfons Adam, gesprochen.
„Wir untersuchen die Orte der Zwangsarbeit nicht nur auf dem Gebiet des Protektorats, sondern auch in den Grenzgebieten. Es ist ein bisschen schwierig zu definieren, was Zwangsarbeit ist. Die Arbeitspflicht gab es für alle Menschen im Protektorat seit 1940. Die Formen von Zwangsarbeit, die mit Lagerunterkünften und mit Bewachung verbunden sind, betrafen in erster Linie und vor allem zu Beginn des Krieges die ethnischen Minderheiten, Juden und Roma. Später hat sich der Druck auch auf die tschechische Bevölkerung immer weiter ausgeweitet. Es gab die berühmten Versendungen oder den sogenannten Reichseinsatz, wobei ganze Jahrgänge zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich geschickt wurden. Es gab auch Formen, dass zum Beispiel Tschechen, die auf Protektoratsgebiet lebten, zur Zwangsarbeit als Tagespendler in den Sudetengau fuhren und abends wieder zurück. Und es gibt natürlich Formen von Zwangsarbeit, wo wir uns mit der Definition nicht ganz sicher sind: 1944 haben in der Prager Industrie 150.000 Personen für die deutsche Kriegsindustrie gearbeitet. Sie alle mussten arbeiten, die Mehrheit hat natürlich zu Hause gewohnt, aber es gab auch in Prag Sammelunterkünfte für Arbeiter.“
Sie sprechen von der allgemeinen Arbeitspflicht im Protektorat seit 1940. Galt diese auch in anderen Ländern, die von NS-Deutschland besetzt wurden?„Die Arbeitspflicht ist eine Gemeinsamkeit des gesamten von NS-Deutschland besetzen Europas. Die Arbeitspflicht gab es im besetzten Frankreich, im besetzten Belgien, in den Niederlanden, in allen den besetzten Gebieten.“
Waren diese Lager auf dem tschechischen Gebiet für Tschechen bestimmt, oder eben für Ausländer?
„In den Grenzgebieten treffen wir auf eine Gruppe von etwa 250.000 Personen, die sich zusammensetzt aus Kriegsgefangenen von westlichen Staaten bis hin zur Sowjetunion, aber auch aus zivilen Arbeitern.“
„Da muss man unterscheiden. Der Aufenthalt von Ausländern auf Protektoratsgebiet während des Zweiten Weltkriegs war verboten. Wir finden Ausländer nur in den Grenzgebieten, die 1938 an das Deutsche Reich abgetreten wurden. Und da treffen wir auf eine Gruppe von etwa 250.000 Personen, die sich zusammensetzt aus Kriegsgefangenen von westlichen Staaten bis hin zur Sowjetunion, aber auch aus zivilen Arbeitern. Dabei unterschied sich der Grad des Zwangs immer je nach Jahr, in dem sie zu arbeiten angefangen haben. Gegen Kriegsende waren die Arbeitsbedingungen verschärft, vor allem die Möglichkeit, den Arbeitsvertrag zu kündigen, gab es dann nicht mehr. Aus ursprünglich zivilen Arbeitern wurden also Zwangsarbeiter.“
Wurden diese verschiedenen Kategorien der Arbeiter zusammen untergebracht? Haben die Kriegsgefangenen und die freien Arbeiter zusammen gearbeitet?
„Die jeweiligen Zwangsarbeiterkategorien waren grundsätzlich getrennt voneinander untergebracht. Die Unterkunftsbedingungen waren auch unterschiedlich. Für französische Zivilarbeiter, für belgische Zivilarbeiter, vor allem für die holländisch sprechenden Vlamen, gab es leichtere Bedingungen. Sie konnten sich anfangs noch Privatunterkünfte suchen, wohnten also teilweise in eigenen Wohnungen oder zur Untermiete bei deutschen Familien. Ostarbeiter – Ostarbeiter ist ein Begriff für Menschen aus der Sowjetunion – und speziell Kriegsgefangene waren immer in Lagern untergebracht – getrennt nach Nationalität.“Welche Nationalitäten lebten also auf dem Gebiet der Tschechischen Republik?
„Unter den Zivilarbeitern dürften die Ostarbeiter aus der Sowjetunion die größte Gruppe ausmachen, danach folgen Polen. Kleinere Gruppen sind französische Zivilarbeiter, belgische Zivilarbeiter, holländische Zivilarbeiter. Man findet auch relativ ‚skurrile‘ Gruppen: Ich weiß zum Beispiel von einer Gruppe griechischer Arbeiterinnen, die in Ústí nad Labem / Aussig eingesetzt waren. Und natürlich gibt es neben den beiden genannten Gruppen, also Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen, noch eine dritte Gruppe: Häftlinge von KZ-Lagern. Es ist eine größere Gruppe, 20.000 bis 30.000 Personen, die natürlich die schlimmsten Haftbedingungen erlitten haben.“In welchen Bereichen waren die Zwangsarbeiter beschäftigt?
„In der Landwirtschaft in den tschechischen Grenzgebieten war in jedem deutschen Dorf mindestens ein Zivilarbeiter oder ein Kriegsgefangener eingesetzt.“
„Es kommt auf die Region an. Man kann davon ausgehen, dass in der Landwirtschaft in den tschechischen Grenzgebieten in jedem deutschen Dorf mindestens ein Zivilarbeiter oder ein Kriegsgefangener eingesetzt war. Bei den Frauen gab es eine relativ große Gruppe, die in Haushalten als Haushaltshilfen eingesetzt waren. Eine klassische Gruppe für den nordböhmischen Raum, für den Raum Most / Brüx, sind Arbeiter im Braunkohleabbau, sowohl im Übertageabbau als auch Untertage. Und seit 1943 wurde vor allem in der Rüstungsindustrie gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt gab es große Verlagerungen von Fabriken aus bombengefährdeten Regionen aus Deutschland sowohl ins Protektorat als auch in den Sudetengau. Die komplette Industrie im Sudetengau wie auch im Protektorat wurde also auf Kriegsproduktion umgestellt, und von Aš / Asch bis Český Těšín / Teschen wurden Flugzeuge, Panzer und Teile für die V2 gebaut. Aber auch in der Landwirtschaft wurde Holz für Bauarbeiten gefällt. In Kolín wurde Zyklon B produziert.“
„Die komplette Industrie sowohl im Sudetengau als auch im Protektorat wurde auf Kriegsproduktion umgestellt.“
Es handelte sich also sowohl um Lager, in denen mehrere tausend Menschen lebten und arbeiteten, als auch um Einzelschicksale oder Einzelpersonen, die irgendwo in einem Haushalt oder auf einem Bauernhof arbeiteten…
„Es kann zum Beispiel ein Untermieter sein, der auf einem Bauernhof gewohnt und gearbeitet hat, und das in den meisten Fällen auch unter relativ humanen Bedingungen. Es gibt aber auch Fälle von Beschwerden, dass der Bauer sich schlecht gegenüber den Zwangsarbeitern verhalten hat. Natürlich geht es hin bis zu einer Skala, die unendlich ist. Das größte Einzellager, das mir bekannt ist, ist das KZ-Außenlager Litoměřice / Leitmeritz mit einer Belegung von 9000 Personen. Die größte Lagerdichte bestand wahrscheinlich rund um den Aufbau einer Hydrieranlage in der Nähe von Most / Brüx. Auf diesen Baustellen waren ungefähr 35.000 bis 45.000 Personen eingesetzt, davon 70 bis 80 Prozent Ausländer. Dort wird von ganzen Lagerstädten gesprochen. Es ist dokumentiert, dass die Unternehmensverwaltung eine eigene Verwaltungsabteilung für die Lager hatte: Das Unternehmen verwaltete 40 Lager, die jeweils aus mehreren Barracken bestanden.“
Sie haben für Ihre Ausstellung aus den vielen Orten der NS-Zwangsarbeit 18 ausgewählt, die Sie als Beispiele präsentieren. Was war der Schlüssel für diese Auswahl?„Es waren im Prinzip zwei Schlüssel. Zum einen wollten wir möglichst alle Opfergruppen abdecken oder deren Schicksal zeigen. Und auf der anderen Seite waren es ganz praktische, ausstellungstechnische Gründe: Zu sehr vielen Fällen, zu sehr vielen Orten ist kein Bildmaterial erhalten. Mit der Vertreibung der mehrheitlich deutschen Bevölkerung vor allem in den Grenzgebieten sind auch die Schnappschüsse verloren gegangen oder mitgenommen worden. Es gibt sehr wenige Unterlagen. Speziell das Grenzgebiet ist ein Problem sowohl in der tschechischen Wahrnehmung, als auch in der Wahrnehmung von deutschen Behörden und von deutschen Archiven. Siemens zum Beispiel hatte mehrere Außenstellen oder Filialen im Sudetengebiet, aber in der klassischen Siemens-Firmengeschichte kommen diese Außenstellen nicht vor.“
„Wir haben Geschichten über eine Katalanin, über einen Franzosen, über mehrere Polen, über mehrere Ukrainer, über einen Italiener.“
Dokumentieren Sie auch einzelne Schicksale, einzelne Lebensgeschichten der Zwangsarbeiter?
„Das war uns bei der Vorbereitung der Ausstellung sehr wichtig, den Orten immer auch Gesichter und Geschichten zu geben. Diese Geschichten, die wir den Orten zurückgeben, sind in den seltensten Fällen tschechische oder deutsche Geschichten. Wir haben Geschichten über eine Katalanin, über einen Franzosen, über mehrere Polen, über mehrere Ukrainer, über einen Italiener. Viele Geschichten werden in unserer Ausstellung heute auf Englisch erzählt, weil es die Geschichten von Juden aus ganz Europa sind sie von Juden aus ganz Europa sind, die während ihrer Leidenszeit für einige Wochen, einige Monate oder einige Jahre Zwangsarbeit auf dem Gebiet der Tschechischen Republik leisten mussten. Diese Interviews wurden in den 1980er und 1990er Jahren in unterschiedlichen Archiven aufgezeichnet. Sie hören wunderschönes Englisch mit wunderschönem deutschen Akzent, aber auch wunderschönes Amerikanisch mit einem polnischen Akzent.“
Können Sie einige der Orte nennen, die in der Ausstellung präsentiert werden?„Eigentlich müsste ich alle 18 Orte nennen können. Wir fangen im Westen bei Cheb / Eger an. Einer unserer Lieblinge ist der Weiler Melm im Böhmerwald, auf Tschechisch Jelm, der aus zwei Häusern besteht. Spannend für uns war die Region um Karviná / Karwin und Ostrava / Ostrau, die aus Prager Sicht ganz weit entfernt ist und die sich durch den Kohleabbau speziell nach 1945 komplett verändert hat. Es ist dort wirklich schwierig, den Ort überhaupt zu definieren oder wiederzufinden, weil sich die Topographie teilweise verändert hat. Wir wissen alle, dass Most / Brüx in Nordböhmen verschoben wurde oder an einer neuen Stelle wiederaufgebaut wurde, aber das gleiche Schicksal ist auch zum Beispiel der Stadt Karviná passiert. Das waren die Orte, die uns viel Spaß gemacht haben, aber auch viel Mühe.“
Die Ausstellung „Vergessene Orte der Zwangsarbeit in der Tschechischen Republik“ wird im März in der Gedenkstätte Flossenbürg präsentiert. Im Anschluss daran wird sie in der Vítkov-Gedenkstätte in Prag gezeigt.