Nach der Staatsgründung aufgebaut: das Ostrauer Stadtarchiv
Ein Resultat des Ersten Weltkriegs war der Zerfall der Habsburger Monarchie. In der Folge entstand bekanntlicherweise die selbständige Tschechoslowakei, offiziell geschah dies am 28. Oktober 1918. Nicht lange dauerte es, dass auch im Kultur- und Vereinsleben ein deutlicher Aufschwung in Gang kam. Große Rolle spielten dabei die Museen und Bibliotheken, ihre Zahl stieg sprunghaft an. Viele Städte begannen, systematisch ein eigenes Archiv anzulegen und die verschiedensten Dokumente mit damals zeitgemäßen Methoden zu erfassen. Auch in der nordmährischen Industriestadt Ostrava / Ostrau, in der seit Jahrhunderten mehrere Nationalitäten lebten, wurde 1923 ein neues Stadtarchiv aus der Taufe gehoben. Ein Exkurs in die Geschichte der Institution.
Dass das Archiv entstand, ging auf eine Initiative zurück des sogenannten Rates für das erweiterte Ostrauer Gebiet. Leitender Archivar sollte der studierte Geschichts- und Lateinlehrer Alois Adamus werden. Am 1. September 1923 trat Adamus sein neues Amt an, dies gilt offiziell auch als Gründungstag dieser Institution. Heutzutage wird das Archiv von Blažena Przybylová geleitet:
„Adamus war Gymnasialprofessor von Beruf und wollte die vorteilhafte Position des Staatsbeamten nicht aufgeben. Deswegen wurde er vom Schulministerium vorerst für ein Jahr beurlaubt, um das neue Archiv aufzubauen. Schaut man sich an, welche Ziele er sich damals setzte, ist es genau das, womit sich ein Archiv auch heute beschäftigen soll: die Erfassung der als archivwürdig bewerteten Dokumente, deren inhaltliche Erschließung und entsprechende Betreuung. Adamus ließ zunächst die Archivbestände des Rathauses, die an mehreren Orten deponiert waren, unter einem Dach versammeln. Danach begann er, unermüdlich diese zu bearbeiten. Außerdem reiste er auch durch die breite Umgebung der Stadt, um wichtige Dokumente zu retten, auch durch den Ankauf. Bei einer Familie stieß er zum Beispiel auf die älteste Stadtchronik, das so genannte Gedenkbuch. Die Einträge darin reichen bis in das Jahr 1565 zurück. Bis auf zwei deutsche sind alle tschechisch geschrieben. Das Buch, das unter anderem Heirats- oder Kaufverträge enthält, wurde später von Rathausbeamten als unbedeutend erachtet und aus dem Archivbestand aussortiert. Es kam in Privathand.“Viele tschechisch verfasste Dokumente verloren
Dabei war dies noch der bessere Fall. Weitere Archivdokumente wurden einfach vernichtet:„Ein Teil der Dokumente in Papierform wurde an Händler zur Verpackung ihrer Waren verteilt. Auf diese Weise sind insbesondere auf Tschechisch verfasste Archivalien endgültig verloren gegangen. Generell waren Dokumente gefährdet, die irgendwann einmal als historisch, rechtlich oder politisch belanglos eingestuft wurden. Urkunden auf Pergament drohte dies höchstwahrscheinlich nicht. Vielen anderen in Anführungsstrichen ‚unwichtigen‘ Schriftstücken wurde im Rathaus wesentlich weniger Aufmerksamkeit gewidmet“, so Przybylová.
Die Richtlinien für das Archiv definierte Alois Adamus wie folgt: die systematische Erfassung, Bewahrung und Pflege von wichtigen Schriftstücken, Dokumenten, Urkunden und Akten. Und diese sollte man, Zitat: „für die Ostrauer Gemeinde zugänglich machen“. Der Stadtarchivar, so sein offizieller Titel, stand an der Spitze des sogenannten XIV. Referats im Ostrauer Magistrat. Außer dem Archiv verwaltete er auch das städtische Museum.
Adamus publizierte zudem viel, um der Öffentlichkeit das Archiv und die Geschichte der Stadt näherzubringen. Ansonsten war er oft auf Reisen, um nach Archivalien zu suchen, die einen Bezug zu Ostrau und Mährisch Schlesien hatten. Zum Beispiel im Schlesischen Archiv Opava / Troppau, im Mährischen Landarchiv von Brno / Brünn, im erzbischöflichen Archiv im mährischen Kroměříž / Kremsier oder sogar im polnischen Staatsarchiv von Wroclaw / Breslau. Es war eine Fleißarbeit – tagein, tagaus, von früh bis spät, sogar bis in die Nacht. Adamus sei vieles zu verdanken, sagt Blažena Przybylová.„Er begründete ein umfassendes Archiv der regionalen Presse sowohl mit tschechischen als auch mit deutschen Periodika, die seit 1875 herausgegeben wurden. Um auf dem Laufenden zu sein, knüpfte er zum Beispiel enge Kontakte zum Direktorium der Stadtpolizei, in dessen Kompetenz die Genehmigung von gesellschaftlichen Veranstaltungen lag. Von dort erhielt er gedruckte Einladungen zu Tanzbällen, Theatervorstellungen und Sportaktionen der Ostrauer Vereine sowie Plakate – alles, um es zu archivieren.“„Schwarze Kunst“ in Ostrau
Ostraus Geschichte ist vor allem mit der Kohleförderung und Eisenproduktion verknüpft. In den 1870er Jahren liegen allerdings auch die Anfänge der polygrafischen Industrie in der Stadt. In den dortigen Druckereien erblickten die ältesten Zeitungen der Region das Licht der Welt. Gedruckt wurden auch die ersten Buchtitel für die Ostrauer Fach- und Laienöffentlichkeit. Dieses Kapitel der Ostrauer Geschichte hat das Stadtarchiv kürzlich in einer Ausstellung beschrieben, mit dem Titel „Die Schwarze Kunst in der Zeit desv schwarzen Ostraus – Druckereien in der Industrie-Metropole“ (Černé umění za časů černé Ostravy aneb Tiskařství v průmyslovém velkoměstě).
Archivgründer Adamus findet seine Arbeit nicht gewürdigt
Heutzutage beherbergt das Ostrauer Stadtarchiv über 8000 gebundene Zeitschriftenbände und rund 7000 Zeitungsbände. Alois Adamus, der sich maßgeblich um die Entstehung dieser Sammlung an Periodika verdient gemacht hatte, verließ auf eigenen Wunsch 1935 das Archiv und auch die Stadt. Er habe sich darüber beklagt, dass seine Arbeit nicht ausreichend gewürdigt worden sei, hieß es damals. Wie ging es in der Institution danach weiter?„Nachdem Alois Adamus 1935 die Stadt verlassen hatte, blieb der Posten des Archivchefs bis 1941unbesetzt. In der neuen Stellenausschreibung wurde von den Bewerbern grundsätzlich gefordert, dass sie über Hochschulbildung verfügen und die deutsche Nationalität haben mussten. Ein Jahr später kam Julius Klitzer, der bis dahin im Prager Stadtarchiv tätig gewesen war. Als Archivar verfügte er über die entsprechende Kenntnisse und Kompetenzen bei der Verwaltung von Dokumenten. Aber er war auch bemüht, Broschüren mit nationalsozialistischem Inhalt herauszugeben.“
Vor dem nahenden Ende des Zweiten Weltkriegs vereinbarten die deutschen Besatzer der Stadt mit dem deutschen Reichsarchiv in Opava, einen Teil des Ostrauer Archivguts in nahe gelegenen Ortschaften wie zum Beispiel ins Schloss Velké Heraltice zu bringen, aber auch in provisorische Depositare in West- und Südböhmen. Von dort sollten die Dokumente weiter nach Deutschland gebracht werden. Das gelang aber nicht. Auf den letzten Drücker sozusagen wurden zu Kriegsende fast alle Archivalien noch auf tschechoslowakischem Gebiet sichergestellt. Blažena Przybylová zufolge sind die Verluste zum Glück minimal gewesen.