Publizist Stanislav Motl: „Geschichte ist heute in Mode“
Stanislav Motl ist ein Publizist, der vor allem über die Zeit des Nationalsozialismus arbeitet. In Tschechien wird er auch als „Nazi-Jäger“ bezeichnet, weil er mit seinen Recherchen zur Verfolgung von NS-Tätern beigetragen hat. Im Gespräch mit den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks gab der 63-Jährige kürzlich Auskunft über sein Verständnis von investigativer Geschichtswissenschaft.
„Wenn ich Geschichten suche, da muss ich sagen, dass es mich am meisten erfüllt, neue menschliche Geschichten und Zusammenhänge aufzudecken. Man braucht also sehr gute Kenntnisse über dieses Thema und begibt sich dann auf die Spuren dieser Menschen. Das heißt, dass ich so viel wie möglich dazu studiere und lese, und dann versuche ich etwas zu tun, was auch diese Person gemacht hat. Zum Beispiel habe ich den Mont Blanc erklommen wie Milan Štefánik, der sechsmal dort hinaufgestiegen ist. Dadurch habe ich manchmal das Gefühl, dass man für diese Menschen eine größere Empathie hegt, dass man sie besser versteht. Und vielleicht entdeckt man dadurch etwas, das vorher noch nicht niedergeschrieben war.“
Von historischer Distanz scheint Motl nicht sehr viel zu halten. Allerdings gibt es bei aller Empathie auch Grenzen, sagt der Reporter. Eine Person, der Motl sehr nahe gekommen ist, war der inzwischen verstorbenen Bořivoj Bartoníček. Für sein Buch „Der Zeuge aus der Todeszelle“ begab er sich auf die Spuren des Mannes, der sich während der Besatzung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg dem Widerstand angeschlossen hatte.Persönlichen Schicksalen auf der Spur
„Das war ein Mensch, der mit 18 Jahren vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt wurde. Vier Monate hat er auf den Vollzug dieser Strafe gewartet, in einer kleinen Zelle in Brandenburg, ich habe sie mir angesehen. Dort war er ganz alleine von morgens bis abends gefesselt. Das heißt, er konnte nur schreiben oder lesen. Und jeden Montag kam der Henker. Auf diese Weise hat er vier Monate verbracht. Am Ende gehörte er zu den Ausnahmen, die begnadigt wurden und schließlich 20 Jahre Haft erhielten. Ich habe ihn ein wenig provokativ gefragt, ob es ihm damals als schönem jungen Mann nicht leid getan hätte, vielleicht niemals wieder ein Mädchen haben zu können. Da hat er mich angesehen, als würde ich eine völlig unverständliche Sprache sprechen. Er sagte: Wir waren anders als ihr. Wir waren Patrioten. Wir waren überzeugt davon, dass wir unsere Taten für unser Land begehen. Der Terminus Patriotismus wird heute oft profanisiert, aber damals lebte die Gesellschaft dafür. Dieser Bartoníček war der einzige Sohn eines Fabrikanten in Česká Třebová. Und der eigene Vater brachte den Sohn mit 16 Jahren zum Widerstand. Solche Menschen haben mich sehr stark beeindruckt. Als ich das Buch über Bartoníček geschrieben habe, war ich sehr oft bei ihm. Ich habe mir diese Todeszelle angesehen, seine Briefe gelesen und bin ihm sehr nahe gekommen. Aber natürlich konnte ich nicht diesen Albtraum nachempfinden, den er durchlitten hat.“
Motl hat auch als Drehbuchautor gearbeitet. In dem Film „Lebendig tot“ folgt Regisseur Pavel Dražan seinen Recherchen über das Sonderkommando des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.„Für diesen Film konnte ich Aussagen bekommen vom einem Mitglied des Auschwitz-Sonderkommandos, Henryk Mandelbaum. Er hatte die entsetzliche Aufgabe, als Häftling Menschen in die Gaskammern zu führen. Die Mitglieder des Sonderkommandos lebten normalerweise drei Monate und wurden dann erschossen. Es war also ihre Aufgabe, an der Rampe die armen Menschen abzuholen, die Mengele und andere ins Gas geschickt hatten. Sie mussten auch mit ihnen Scherze machen. Dann musste er die Gaskammern schließen und ihnen sagen, dass sie nun duschen würden. Und danach ihre Körper verbrennen. Als wir darüber gesprochen haben und die Aufnahmen gemacht haben, kam es zu einer Situation. Es war kurz vor seinem Tod, vielleicht hat er sich auch gesagt, nun sage ich alles. Und als er mir das alles erzählte, habe ich ihn unterbrochen und gefragt: Wo war in dieser Zeit Gott? Und er sagte ganz direkt, dass er nicht an Gott glauben könne. Wären 50 oder 100 Juden ermordet worden, hätte er das noch ertragen. Aber weshalb so viele Millionen? Es war einfach seine Meinung. In dem Moment musste ich mich umdrehen, denn ich gehöre noch der Generation an, der man beigebracht hat, keine Tränen zu zeigen.“
Verstehen, nicht bagatellisieren
Größte Bekanntheit erlangte Motl als investigativer Reporter, zunächst für den Fernsehsender Nova, später für den Tschechischen Rundfunk. Er begab sich unter anderem auf die Spuren der Theresienstadt-Aufseher Anton Malloth und Hildegard Mende. Seine Recherchen in diesem Feld dauern an. Allerdings, so sagt er, habe sich sein Zugang nach und nach verändert. Seine Antwort auf die Frage, ob man das Bösen zu fassen bekommen könne:
„Das ist eine interessante Frage. Ich würde darauf mit einer anderen Sache antworten, die mir in diesem Zusammenhang einfällt: Simon Wiesenthal, der bekannte Nazi-Jäger, den ich kannte und sehr geschätzt habe, sagte einmal zu mir, er habe manchmal den Eindruck, dass ich mich auf der Suche nach Mördern immer mehr damit auseinandersetze und am Ende die Tendenz entwickle, sie zu verstehen. Ich denke, dass hat sich nicht bestätigt, aber das hat Wiesenthal zu mir gesagt. Also, das Böse zu fassen bekommen, einen Menschen zu verstehen, der böse Dinge getan hat, das ist etwas Ähnliches. Und ich muss auch sagen, dass ich immer mit dem Motto handle: Verurteile niemals einen Menschen, wenn du nicht in seiner Situation warst. Ich will ihre Taten sicherlich nicht bagatellisieren. Aber ich versuche doch zu verstehen, was einen Menschen zu seiner Tat gebracht hat, in welcher Situation er das gemacht hat.“
In der Bewertung der Geschichte gebe es nicht nur Schwarz und Weiß, sagt Motl. Er selbst war nach der Samtenen Revolution mit Vorwürfen konfrontiert, während des Sozialismus mit der tschechischen Staatssicherheit zusammengearbeitet zu haben, geschadet hat ihm das anscheinend nicht. Die Suche nach menschlichen Schicksalen und Geschichten wird der 63-jährige Motl weiter fortsetzen, obwohl sie ihm wenig Zeit für anderes lässt.„Man hat die Wahl. Ich habe es mir selbst ausgesucht. Es gibt keinen Grund, sich darüber zu beschweren. Natürlich rangiert die Arbeit bei mir an erster Stelle. Manchmal kommen junge Studenten oder junge Historiker oder Journalisten zu mir und bitten um Hilfe, wollen zum Beispiel im Archiv zusammenarbeiten. Wenn ich aber im Archiv über einen Begriff stolpere, weiß ich bereits, welche Verbindungen ich ziehen kann. Das ist nicht übertragbar. Heutzutage ist die Beschäftigung mit der Geschichte in Mode gekommen, und am allermeisten mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs. In den 1990ern war das noch nicht so. Heute sprechen Menschen darüber, befassen sich damit und haben das Gefühl, diese Zeit zu verstehen. Aber tatsächlich ist es notwendig, dass man sich sein ganzes Leben damit beschäftigt hat, seit der Kindheit. Da reichen fünf oder zehn Jahre nicht. Man muss Menschen kennen, die diese Zeit durchgemacht haben.“