Antonín Kalina – Retter der Kinder von Buchenwald
Selbst war er im Zweiten Weltkrieg im KZ Buchenwald eingesperrt. Dennoch konnte Antonín Kalina mehrere Hundert jüdische Kinder vor dem sicheren Tod retten. Dabei setzte er sein eigenes Leben aufs Spiel. In Deutschland ist der mutige Mann aus dem südmährischen Třebíč praktisch nicht bekannt, in seiner Heimat war er das ebenfalls bis vor kurzem nicht. Der Journalist Stanislav Motl hat allerdings vor einigen Jahren ein Buch veröffentlicht: „Die Kinder von Antonín Kalina“. Im Folgenden mehr zu dem „tschechischen Schindler“.
„An dem Tag war Kalina nicht in dem Block. Als er zurückkahm, waren die Kinder bereits am Tor. Einige weinten, andere hatten wohl resigniert. Kalina entschied sich zu einer eigentlich irrsinnigen Sache. Er rannte zum Tor und schrie dem SS-Kommandanten zu, der habe ihm doch versprochen, dass die Kinder erst als Letzte losgehen würden, zusammen mit den Kranken. Das war jedoch komplett erfunden. Der Deutsche fragte: ‚Hab ich das wirklich gesagt?‘ Und Kalina: ‚Jawohl, Herr Oberleutnant, das haben sie versprochen!‘ Der SS-Mann glotzte und winkte ab: ‚Dann nimm sie und schick sie von mir aus zum Teufel!‘“
Gewerkschafter und Kommunist
Antonín Kalina wird am 17. Februar 1902 in Třebíč geboren. Seine Familie ist arm, er ist eines von zwölf Kindern. Nur weil es dort auch ein kostenloses Pausenbrot gibt, geht er auf die deutsche Schule und nicht auf die tschechische. Der Vater, ebenfalls Antonín, ist Schuster. Obwohl der Sohn sicher das Zeug zum Studium hat, geht er nach der Grundschule ab und tritt in die Fußstapfen seines Vaters.Beide Kalinas sind auch politisch aktiv, sie treten der kommunistischen Partei bei. Der Sohn arbeitet dann beim zweitgrößten Schuhhersteller in der Tschechoslowakei – bei Carl Budischowsky & Söhne. Dort ist er zudem als Gewerkschafter engagiert und gehört 1929 zu den Hauptorganisatoren eines Streiks. Ganz allgemein gilt Antonín Kalina junior als rebellischer Charakter. 1931 kauft der größte Konkurrent, der Schuhmagnat Tomáš Baťa, die Fabrik in Třebíč. Kurz danach lässt er Kalina zu sich rufen. In einem Interview nach dem Zweiten Weltkrieg hat dieser die damalige Situation geschildert:
„Baťa bot mir einen Verwalterposten an mit einem Monatsgehalt von 4500 Kronen und einem notariell beglaubigtem Vertrag. Dafür sollte ich aber aus der kommunistischen Partei austreten. Er sagte, dass es um einen Menschen mit meiner Intelligenz bei den Kommunisten schade sei. Ich könnte bei ihm Karriere machen und in einem Jahr den Betrieb in Třebíč leiten. Auf all seine verlockenden Angebote habe ich Baťa gesagt, dass ich mich auch für alles Geld nicht kaufen lasse.“
Daraufhin seien alle seine näheren und entfernteren Verwandten aus der Firma entlassen worden, schilderte Antonín Kalina damals. Letztlich trifft es auch ihn selbst, obwohl er sogar vor Gericht geht. Nach der Kündigung schlägt sich der gelernte Schuster mit unterschiedlichen Arbeiten durch. 1938 wird in der Tschechoslowakei die kommunistische Partei verboten, und Kalina geht in den politischen Untergrund.Als am 15. März 1939 die Nationalsozialisten in Prag einmarschieren, haben sie auch eine Liste mit allen Mitgliedern der KPTsch in der Hand. Einen Tag später schon wird Kalina in dem Betrieb verhaftet, in dem er damals arbeitet. Über Gefängnisse in Brno / Brünn und Prag kommt er ins KZ Dachau und im September 1939 dann nach Buchenwald. Dort wird er als politischer Gefangener inhaftiert. Im Lauf der Zeit gewinnt er den Respekt der Mitgefangenen. Das hilft ihm in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Stanislav Motl:
„Er hatte große Autorität, weil er bereits seit 1939 im KZ war. Die Mitgefangenen machten ihn daher zum Blockältesten. Ab 1944 kamen Transporte aus Auschwitz und anderen Lagern nach Buchenwald. Kalina bemerkte, dass unter den teils wenigen Überlebenden auch immer 20 bis 50 Kinder waren. Als erfahrener Häftling war ihm klar, dass sie kaum Überlebenschancen hatten, wenn sie auf die unterschiedlichen Blöcke aufgeteilt wurden. Er begann sich also bei seinen Mithäftlingen dafür einzusetzen, dass mithilfe der ‚Häftlingsselbstverwaltung‘ ein eigener Kinderblock eröffnet wurde.“Das ist der Kinderblock 66. Er befindet sich im sogenannten Kleinen Lager. Dies ist zuvor eine Quarantänezone gewesen, durch die Massentransporte aus den Vernichtungslagern wird es jedoch Sterbe- und Siechenort. 18.000 Menschen werden dort zeitweise zusammengepfercht.
Der Kinderblock 66
Antonín Kalina ist an das Internationale Lagerkomitee von Buchenwald angeschlossen, das im Untergrund arbeitet. Dieses setzt seine Leute in der Häftlingsselbstverwaltung durch. Auf diesem Weg wird der tschechische Kommunist im Sommer 1944 zum Ältesten des Blocks Nummer 66. Seinen Freund Jindřich Flusser, einen Arzt, macht er zu seinem engsten Mitarbeiter, dem Blockschreiber.„Die anderen Vertreter des Internationalen Lagerkomitees waren größtenteils gegen einen eigenen Kinderblock gewesen. Sie befürchteten, dass diese damit praktisch schon vorversammelt wären für einen möglichen Todesmarsch. Ihrer Ansicht nach bot eine Verteilung auf mehrere Blöcke größere Überlebenschancen. Kalinas Plan bestand aber darin, an den Block ein Schild zu hängen, das vor Typhus warnte. Und vor dieser Krankheit hatten die Nazis unglaublich Angst. Deswegen ging die Lagerleitung erst gar nicht in diesen Bereich, und die Kinder mussten auch nicht auf dem Appellplatz antreten“, so Motl.
In dem Block sind Kinder und Jugendliche vor allem im Alter zwischen 12 und 16 Jahren untergebracht. Überwiegend sind sie jüdisch, rund 100 aber auch Roma und Sinti. Über die Gesamtzahl gehen die Angaben auseinander, sie schwanken zwischen 1300, 1100 und 900. In jedem Fall entsteht eine der größten Rettungsaktionen während des Zweiten Weltkriegs. Stanislav Motl wagt den Vergleich:
„Völlig zu Recht erinnern wir immer wieder an solche Leute wie Sir Nicholas Winton oder Oskar Schindler. Doch Antonín Kalina hat sich von ihnen deutlich unterschieden. Denn er hat dafür sein Leben riskiert – und das jeden Tag.“Kalina ist durchaus bewusst, dass die SS irgendwann auch in den Kinderblock kommen wird. Deswegen ersinnt er eine weitere Finte. Er erklärt die Kinder zum Schein zu Christen. So lässt er von der Kleidung den Judenstern entfernen. Aber nicht nur das:
„Sein Schreiber Jindřich Flusser hat in seinen Erinnerungen festgehalten, dass er zunächst lange Zeit nicht verstand, warum er die Namen der Kinder nur mit Bleistift und nicht mit dem Füller in die Bücher eintragen sollte. Erst als Kalina anordnete, die jüdischen Namen auszuradieren, wurde ihm das klar. Bei deutschen Vornamen bestand kein Problem, aber bei den jüdischen wie Moishe oder Isaak schon. Stattdessen ließ er zum Beispiel Gustav hinschreiben“, sagt der Journalist und Publizist.
Letztlich kommt heraus, dass auch der Block 66 geräumt werden soll. Deswegen gehen Kalina und Flusser am 6. April 1945 zu den Kindern dort. Der Blockwart spricht selbst auch Polnisch und Russisch, und sein Schreiber übersetzt zudem ins Französische.
„Am Abend wusste Kalina schon, dass die SS am nächsten Tag kommen würde. Deswegen bläute er den Kindern ein: ‚Wenn ihr morgen gefragt werdet, wer Jude ist, dann sagt, ihr seid Holländer, Polen, Tschechen, Russen oder sonst etwas. Wer sagt, dass er Jude sei, dem gebe ich eigenhändig eins auf die Finger.‘ Tatsächlich kam am nächsten Morgen die SS. Der Kommandant schrie: ‚Wo sind Deine Juden?‘ Und Kalina sagte mit ruhiger Stimme: ‚Aber hier sind doch gar keine mehr, die wurden schon alle weggeschickt. Überzeugen Sie sich selbst!‘ Und er gab dem Kommandanten die Liste mit den Namen.“
Die letzte Rettungsaktion ist dann jene am 9. April. Zwei Tage später werden den Angaben nach über 900 Kinder aus Block 66 befreit. Darunter sind zum Beispiel spätere Nobelpreisträger wie der amerikanische Publizist Elie Wiesel und der ungarische Romancier Imre Kertész.„Die Kinder müssen überleben“
Doch warum nimmt damals Antonín Kalina das Risiko auf sich und rettet die Kinder? Diese Frage stellen sich kurz vor Kriegsende auch die Mitgefangenen. Stanislav Motl:
„In der Akte von Kalina als politischem Gefangenen war vermerkt: ‚Rückkehr unerwünscht‘. Das hieß, dass er jeden Moment grundlos erschossen werden konnte. Jindřich Flusser und weitere Häftlinge fragten ihn bereits im Jahr 1945, ob es ihm wert sei, ein solches Risiko einzugehen. Er sagte: ‚Ich habe das Leben fast hinter mir, aber die Kinder müssen überleben!‘ Er war damals 43 Jahre alt und hielt sich bereits für einen alten Mann. Im Übrigen galten die Väter damals noch als Vorbilder. Und Kalina fand, dass sein Vater genau dasselbe getan hätte.“
Nach der Befreiung von Buchenwald kehrt Antonín Kalina in seine Heimat zurück. Im weiteren Verlauf arbeitet er am tschechoslowakischen Ministerium für Leichtindustrie. Doch weder seinen nächsten Angehörigen noch Freunden erzählt er von seinen Rettungstaten in Buchenwald. Dabei spricht er durchaus über seine Zeit im KZ. Am 26. November 1990 stirbt Kalina in Prag im Alter von 88 Jahren.Allerdings machen schon in den 1980er Jahren Überlebende aus dem thüringischen Lager auf den früheren Blockältesten aufmerksam. Zwei amerikanische Publizistinnen reisen 1988 nach Prag und interviewen ihn. Ihr Buch „Rescuers“, also Retter, erscheint 1992. Stanislav Motl erfährt bei seinen häufigen Reisen nach Israel von seinem tapferen Landsmann. Er beginnt zu recherchieren:
„Ich hatte Glück, dass ich noch einige seiner früheren Mithäftlinge sprechen konnte. Ich habe dann begonnen, seine Geschichte niederzuschreiben. In Israel, den USA und etwa auch Großbritannien konnte ich zudem einige von ihm gerettete Kinder aufspüren.“
2012 kommt in den Vereinigten Staaten dann der Film „Kinderblock 66“ heraus. Dieser erzählt die Lebensgeschichte von vier Überlebenden – und er stellt auch Antonín Kalina in den Mittelpunkt. Noch im selben Jahr wird der Retter aus Třebíč in Israel geehrt. Posthum wird er von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zum „Gerechten unter den Völkern“ ernannt. Zwei Jahre später erhält er auch das tschechische Verdienstkreuz – 24 Jahre nach seinem Tod.