Von Baťa bis zur Prager Südstadt – der tschechische Plattenbau
Nirgendwo in Europa wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Plattenbauten in so großem Umfang hochgezogen wie in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Die Tschechoslowakei bildete da keine Ausnahme. Während in Westeuropa bereits in den 1970er Jahren auf dieses Wohnmodell verzichtet wurde, sollte es hierzulande in derselben Zeit erst seinen richtigen Boom erleben. Im Folgenden mehr zur Geschichte der tschechischen „paneláky“, wie die Plattenbauten hierzulande heißen.
„Der Leninismus spiegelt sich in der Arbeit unserer Menschen wider und in ihren kühnen Plänen in allen Bereichen des sozialistischen Aufbaus.“
Oder auch:
„Alte Häuser, enge Gassen und unhygienische Nischen - das sind die Relikte des kapitalistischen Wachstums einer Industriestadt. Anders ist es bei der Fürsorge der Partei und der volksdemokratischen Regierung um unsere Werktätigen. Alte Bergarbeiterkolonien werden abgerissen und an den Orten, an denen keine Kohleflöze bestehen, werden neue sozialistische Städte aufgebaut.“Die Fertigbauplatten wurden hierzulande nicht gleich am Fließband produziert. Der Herstellung lief eher bescheiden an. Ein erster Plattenversuchsbau entstand im Prager Stadtviertel Ďáblice. In das dreigeschossige Gebäude mit zwölf Wohnungen zogen am 1. Juli 1955 die ersten Mieter ein. Es hatte allerdings ein Satteldach sowie einen Verputz, der die Fugen zwischen den Platten zudecken sollte. In seiner Gestalt erinnert der Erstling eher an ein Werk des so genannten sozialistischen Realismus als an die heute bekannten Plattenbauten.
Als Vorreiter der Plattenbauweise in der Tschechoslowakei gilt das südmährische Zlín, das damals Gottwaldov hieß. Dort entstand 1953 das erste Wohnhaus, das wie ein Baukasten aus großen Wandplatten zusammengefügt wurde. Die Montage des fünfgeschossigen Gebäudes mit 40 Wohnungen dauerte nur vier Monate. Es war kein Zufall, dass sich dies gerade in Zlín vollzog. Lucie Zadražilová ist Kunsthistorikerin (1976) und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit dem Phänomen der Plattenbauten hierzulande:„Bereits in der Zwischenkriegszeit wurde in Zlín mit Betonplatten beim Häuserbau experimentiert. Als Standort der weltweit bekannten Baťa-Schuhwerke war Zlín eine der modernsten Städte in der Tschechoslowakei. In den 1940er Jahren förderte Unternehmensinhaber Tomáš Baťa die Erforschung neuer Baumaterialen wie Gussbeton oder großen Platten. Auch wenn er letztlich nicht alle seine Bauvisionen umsetzen konnte, war dies ein wichtiger Impuls für die Zukunft. Nach dem Krieg konnten Betonplatten auch industriell hergestellt werden.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der ČSR ähnlich wie anderswo in Europa ein ausgeprägter Wohnungsnotstand. Das Problem war nicht schnell zu lösen. Umso mehr begehrt waren bei der Bevölkerung die Plattenbauwohnungen, die im Vergleich zur traditionellen Ziegelbauweise schneller gebaut werden konnten. Obendrein boten sie einen höheren Komfort wie fließendes warmes und kaltes Wasser, Zentralheizung und ein eigenes Badezimmer. Auf die Zuteilung solch einer Wohnung musste man meist viele Jahre warten. Allerdings hatten die ersten Plattenbautypen auch Nachteile, vor allem einen hohen Wärmeverlust, doch dies nahmen viele Menschen anfangs einfach in Kauf. Kontinuierlich wurde aber an einer Verbesserung von Material und insgesamt des Bauverfahrens gearbeitet. Lucie Zadražilová:„Die Plattenbausiedlungen in Tschechien lassen sich je nach Bauweise in mehrere Generationen aufteilen. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre wechselten sie ungefähr in zehnjährigen Zeitabschnitten. Die einzelnen Siedlungstypen waren sich zwar in vielem ähnlich, gleichzeitig aber unterschieden sie sich auch durch verschiedene Merkmale. Dabei spielte die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage in der Tschechoslowakei eine bedeutende Rolle. Die 1960er Jahre waren zum Beispiel von einer gewissen Euphorie auch in der Bautätigkeit gekennzeichnet. Das politische Tauwetter ermöglichte renommierten Architekten, ihre Visionen in wesentlich höheren Maß als früher frei umzusetzen. Nach dem Einmarsch der Sowjettruppen 1968 in die Tschechoslowakei musste vieles im Zuge der sogenannten ´Normalisierung´ auf Eis gelegt werden. Das Bautempo erhöhte sich zwar, aber die aus dem Boden schießenden Hochhaussiedlungen hatten eine hohe Konzentration von negativ empfundenen Merkmalen.“ Die „Goldenen Sechziger“ in der Architektur sind zum Beispiel in der südmährischen Stadt Brno / Brünn zu sehen, dort entstand die damalige Top-Wohnsiedlung „Lesná“, auf Deutsch etwa „Waldviertel“.„In den 1960er Jahren, als Lesná gebaut wurde, hatten die Architekten freie Hand bei der Ausgestaltung der Infrastruktur. Sie konnten ihre Projekte für Einkaufs- und Kulturzentren nach eigenem Ermessen gestalten. Das ist der Siedlung bis heute anzumerken. Darüber hinaus holte man sich Inspirationen aus dem finnischen Tappiola. Die skandinavische Architektur war schon damals durch ihre enge Verbundenheit mit der Natur bekannt. Dort ist es gelungen, ganze Stadtteile höchst einfühlsam in die Natur zu integrieren.“
Und gerade das hatte die beiden Brünner Architekten František Zounek und Viktor Rudiš begeistert. 1958 nahmen sie an einer Exkursion nach Finnland teil, die vom Tschechoslowakischen Architektenverband organisiert wurde. Zurück nach Hause kamen sie mit der Idee, etwas Ähnliches umzusetzen. In ihrem Entwurf für den neuen Brünner Stadtteil verzichteten sie auf das bisher dominierende Bild mit geometrisch angelegten Straßenverläufen. Stattdessen wurden die Wohnhäuser für insgesamt 20.000 Menschen und die weiteren Bauobjekte aufgelockert und naturnah auf einer Fläche von 100 Hektar angeordnet. Heute gilt Lesná als eine der zwei schönsten Plattenbausiedlungen Tschechiens. Die andere ist „Sítná“ im mittelböhmischen Kladno. In den nachfolgenden zwei Jahrzehnten war im Bauwesen vieles anders, obwohl landesweit weitere Plattenbausiedlungen entstanden. Das Bautempo sowie das Bauvolumen erhöhten sich ungemein, der Freiraum für Spitzenarchitekten verkleinerte sich hingegen. Oft entstanden überdimensionierte Wohnsiedlungen mit unansehnlichen Bauklötzen, dafür bürgerten sich Bezeichnungen wie „Kaninchenkäfige“ oder „Übernachtungsherbergen“ ein. Beispiele dafür sind die Prager „Südstadt“ oder die Plattensiedlung gleichen Namens im mährisch-schlesischen Ostrau. Umso mehr überrascht, dass damals aber weiter an Kunstprojekte im öffentlichen Raum gedacht wurde. In der Regel wurden zwei bis fünf Prozent im Budget des jeweiligen Siedlungsprojektes für die künstlerische Ausschmückung abgezweigt. Wie dies funktionierte, erläutert Kunsthistorikerin Zadražilová an einem Beispiel:„In den 1980er Jahren konnten Architekten nur in seltenen Fällen mehr oder weniger allein entscheiden, welcher Künstler einen Auftrag erhalten sollte. Als zum Beispiel ein Einkaufszentrum in der Prager Plattensiedlung Lužiny gebaut wurde, wandte sich der bekannte Architekt Ladislav Lábus an einige ´verbotene´ Künstler wie zum Beispiel Eva Švankmajerová oder Olbram Zoubek. Sie schufen dann sehr interessante Werke. Doch schon einen Monat nach ihrer Installierung wurden diese Kunstwerke wieder aus dem Einkaufszentrum entfernt.“ Heute leben über drei Millionen Tschechen „in der Platte“. Viele der Siedlungen wurden nach der Wende renoviert und modernisiert. Häufig wird dabei von einer „Humanisierung“ gesprochen. In ihrer Einstellung zum Wohnmodell „Plattenbau“ sind allerdings die Tschechen nach wie vor geteilt. Die einen lehnen es kategorisch ab, die anderen akzeptieren es oder finden es sogar attraktiv. In einer 2013 durchgeführten Meinungsumfrage des Soziologischen Instituts Prag bezeichneten sogar 70 Prozent der befragten Plattenbaubewohner ihre Wohnsituation als „ideal“.