„Etwas völlig Neues“ – Politologe Cabada zur Selbstauflösung des Abgeordnetenhauses
Am Dienstag will sich das tschechische Abgeordnetenhaus selbst auflösen. Hintergrund ist die politische Krise im Land nach dem Rücktritt des bürgerlichen Premiers Petr Nečas. Staatspräsident Miloš Zeman ernannte danach gegen den Willen praktisch aller Parlamentsparteien ein Interimskabinett parteiloser Minister, an der Spitze dieser Regierung steht der Wirtschaftsfachmann Jiří Rusnok. Doch das Vertrauen der Abgeordneten erhielt Rusnok nicht, die konservativen Parteien verbauten ihm den Weg. Zugleich verloren diese Parteien aber ihre absolute Mehrheit, weil zwei Abgeordnete der Demokratischen Bürgerpartei (ODS) ausscherten. Als Folge einigte sich die liberal-konservative Top 09 mit Sozialdemokraten und Kommunisten darauf, die Selbstauflösung des Parlaments herbeizuführen. Mehr dazu und zur politischen Krise nun in einem Gespräch mit dem Politologen Ladislav Cabada von der Metropolitní univerzita Praha.
„Es ist tatsächlich etwas Außergewöhnliches in der Geschichte unserer Politik. Zwar haben wir bereits 1998 ähnliche Erfahrungen gesammelt mit der Selbstauflösung des Parlaments, doch das geschah unter anderen Umständen. Damals einigte sich das Abgeordnetenhaus auf ein konkretes Datum, zu dem die Legislaturperiode vorzeitig beendet werden sollte. Genau zu diesem Datum fanden dann auch vorgezogene Neuwahlen statt. Dieses Mal wird das anders sein: Zwei bis drei Monate wird es wahrscheinlich kein funktionsfähiges Abgeordnetenhaus geben. Dieses wichtigste Staatsorgan wird fehlen, und damit ist die jetzige Selbstauflösung etwas vollkommen Neues in der Geschichte der tschechischen Politik.“
Ist die Auflösung des Abgeordnetenhauses eigentlich Ihrer Meinung nach die beste Entscheidung in diesem Moment zur Lösung der Regierungskrise?
„Zunächst muss ich anmerken, dass ich als Politikwissenschaftler nicht von einer Regierungskrise spreche. Es ist eher eine Governance-Krise, die nicht nur durch die Regierung ausgelöst wurde, sondern auch durch den Präsidenten. Zu Ihrer Frage: Die Auflösung des Abgeordnetenhauses ist nicht die einzige Lösung und womöglich auch nicht die beste. Doch wir befinden uns momentan in einer besonderen Lage, in der wir einen starken Präsidenten haben. Er versucht, die Verfassung breit auszulegen und der dominante Akteur in der jetzigen Lage zu sein. Aus diesem Grund haben die Parteien keinen anderen Weg gefunden, sich gegen den Präsidenten auszusprechen, als die Selbstauflösung des Parlaments und die folgenden Neuwahlen zu fordern.“
Die Abgeordnetenhausvorsitzende Miroslava Němcová von der konservativen Demokratischen Bürgerpartei (ODS) warnt jetzt schon, dass nach der Selbstauflösung des Abgeordnetenhauses ein gewisses Vakuum im parlamentarischen System entstehen wird und bis zu den Neuwahlen dann Präsident Zeman alle Macht in den Händen halten wird. Teilen Sie die Befürchtungen von Němcová? Sehen Sie das als Problem?
„Das drohende Vakuum ist verfassungsrechtlich in jedem Fall ein Problem. Durch das Fehlen des Abgeordnetenhauses fehlt auch die Legislative. Zwar funktioniert die Regierung noch, doch sie kann nicht über neue Gesetze abstimmen lassen. Folglich wird die Machtposition des Präsidenten, zum Teil des Senats und der Regierung selbst weiter gestärkt. Was der Präsident nach den Neuwahlen macht und wann er dann eine neue Regierung vereidigt, steht auch noch nicht fest. Das ist das zweite Problem. Bislang wurden keine Termine bekanntgegeben. Das ist alles sehr ungewiss und lässt dem Präsidenten einen großen Handlungsspielraum. Deswegen teile ich Frau Němcovás Befürchtungen. Zudem halte ich es für sinnvoll, neben der Diskussion über die Neuwahlen eine weitere Diskussion zu beginnen - und zwar über unser Verfassungssystem.“Wir bewegen uns in Tschechien auf vorgezogene Neuwahlen zu. In welcher Verfassung befinden sich denn Ihrer Meinung nach derzeit die jeweiligen Lager - also das linke und das rechte?
„Die linke Seite ist konsolidierter. Die Lage der Kommunistischen Partei ist etwas entspannter. Sie haben nach der Wende die Regierung unterstützt. Die Krise polarisiert einen Teil der Gesellschaft und dieser Teil gehört zu den Wählern der Kommunisten. Die Sozialdemokraten auf der anderen Seite haben über die letzten Jahre mit dem Gewinn bei den nächsten Parlamentswahlen gerechnet. Und es sieht auch so aus, als könnten sie diesmal gewinnen. Doch die Krise zeigt die Uneinigkeit der ČSSD, und es dürfte zu einer Diskussion über das Verhältnis zum Staatspräsidenten kommen. Die Zeman-Anhänger innerhalb der Partei zersplittern sie zudem von innen. Die als rechtsorientiert geltende ODS befindet sich wiederum seit Jahren in der Krise. Sie betrifft das Parteiprogramm, die Persönlichkeiten sowie das Regieren an sich. Die Diskussionen der vergangenen zwei bis drei Wochen zeigen diese Uneinigkeit. Die Umfragen deuten auf ein schlechtes Wahlergebnis für die ODS hin. Die Partei Top 09 hingegen ist konsolidiert. Sie muss in der Wahl zeigen, dass das Programm einer neoliberalen-konservativen Partei nicht eine Eintagsfliege war. Laut Umfragen würde die Top 09 nach den Neuwahlen erneut ins Parlament ziehen, und zwar mit 15 Prozent. Doch Top 09 und ODS könnten zusammen vielleicht nur 30 Prozent erreichen. Das wäre ein historischer Misserfolg für demokratische Rechte.“Im Jahr 2010 sind zwei politische Richtungen aus dem tschechischen Parlament verschwunden: die ökologische mit den Grünen und die christdemokratische mit der KDU-ČSL. Warum sind dies keine relevanten Größen mehr in der tschechischen Politik, oder hat eine von ihnen die Chance zu einem Comeback?
„Die christdemokratische Partei KDU-ČSL schlitterte 2010 in eine tiefe innerparteiliche Krise. Es bildeten sich zwei Fraktionen, zum einen die neoliberal-konservative Fraktion um Miroslav Kalousek, zum anderen die konservativ-soziale Fraktion um Cyril Svoboda. Natürlich ging es da nicht nur um diese zwei Persönlichkeiten, doch dies führte schließlich zur Bildung der Partei Top 09. Dadurch haben die Christdemokraten sowohl Mitglieder als auch Wähler verloren. Aber man konnte doch zeigen, dass ein Raum besteht für Parteien aus der politischen Mitte. Bei den Neuwahlen könnten die Christdemokraten möglicherweise die Fünfprozenthürde überwinden. Das gilt aber wohl nicht für die Grünen, denn sie sind weniger ökologisch als liberal. Zwar konnten sie dadurch in der letzten Wahl auch einige Stimmen von liberaler Seite gewinnen. Doch meiner Meinung nach sind die Fundamentalisten innerhalb der Partei stärker geworden – deshalb wird sie es wohl nicht in das kommende Parlament schaffen.“