„Nicht über oder unter, sondern hinter den Nationen“ – neue Studie über Schriftsteller Urzidil
Johannes Urzidil wurde 1896 in Prag geboren. Der Journalist, Übersetzer und Schriftsteller gehörte zum bekannten Kreis der Prager deutschsprachigen Intellektuellen um Max Brod, Franz Kafka, Franz Werfel und Egon Erwin Kisch. 1939 floh er vor den Nationalsozialisten über Italien zunächst nach England und später weiter nach Amerika, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1970 lebte und arbeitete. In der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ erschien nun ein Band über Johannes Urzidil.
„Der Knabe stapfte durch die Vorstadtgasse. Angestrengt arbeitete er sich weiter, denn der weiche Schnee lag fast schuhhoch, und es schneite noch immer. Es war kalt und zwei Uhr nachts. Warum mühte sich ein zwölfjähriger Knabe allein so spät in schlecht beleuchteten und einsamen Gassen durch wirbelnden Schnee und blickte immer wieder suchend auf den Gehsteig? Ich weiß es, ich bin so gegangen.“
Dabei gehen die Herausgeber chronologisch vor: Der Band beginnt mit seinen Prager Jahren, in denen sich Urzidil als Lyriker versucht hat, und endet mit seinen Exiljahren in New York, wo er sich an Prag erinnert und sich als Epiker und Belletrist einen Namen macht. Die Verfasser der Aufsätze stammen aber nicht nur aus Deutschland oder Tschechien, wie Němec erklärt:
„Wir haben ein ganz breites Spektrum von Autoren versammelt: Die Wissenschaftler, Historiker, Germanisten und Kunsthistoriker kommen aus verschiedenen Bereichen und verschiedenen Ländern. Es waren Leute aus Deutschland da, aus Österreich und natürlich aus der Tschechischen Republik, aber auch Germanistinnen aus Frankreich, Italien und aus Polen. Der Band ist also recht interdisziplinär und international geworden.“Erschienen ist der Sammelband in der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“. Einer der Herausgeber ist der Bohemist Václav Petrbok von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.
„An der Reihe 'Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert' sind Professor Steffen Höhne aus Weimar, Alice Stašková von der Freien Universität Berlin sowie ich beteiligt. Wir wollten in dieser Reihe des Böhlau-Verlags eine Gruppe von Persönlichkeiten vorstellen, die eine wichtige Rolle im damaligen intellektuellen Leben gespielt haben.“
Bisher sind Publikationen über den Germanisten August Sauer, den Slawisten und Politiker Frans Spina sowie natürlich über Franz Kafka erschienen – und nun Johannes Urzidil. Laut Mirek Němec wurde das auch höchste Zeit:
„Jeder kennt das Bonmot, dass es brodelt, dass es werfelt, dass es kafkat und das es kischt – aber es urzidilt leider noch nicht so oft. Es ist daher gut, diesen breiten Kreis von Schriftstellern in Prag unter die Lupe zu nehmen und sich nicht nur mit den Großen zu beschäftigen.“
Johannes Urzidil wird 1896 in Prag geboren. Sein Vater war deutschsprachig, seine Mutter stammte aus einer jüdisch-tschechischen Familie. Folglich wuchs Urzidil zweisprachig auf. Noch während seiner Schulzeit veröffentlicht er erste Gedichte und übersetzt den tschechischen Lyriker Otokar Březina ins Deutsche. Urzidil studiert dann in Prag Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte und beginnt 1918 im deutschen Generalkonsulat als Übersetzer, später als Pressereferent zu arbeiten. Daneben schreibt er als Journalist für das Prager Tagblatt, die Bohemia und einige Zeitungen aus Deutschland. In dieser Zeit freundet er sich mit den bekannten deutschsprachigen Literaten Brod, Werfel, Kafka und Kisch an. Aber auch zu tschechischen Intellektuellen wie den Brüdern Josef und Karel Čapek oder dem Künstler Jan Zrzavý pflegt er freundschaftliche Beziehungen. Er versuchte stets, Brücken zwischen Deutschen und Tschechen zu bauen, sagt Václav Petrbok:
„Urzidil ist eine wichtige Persönlichkeit, die als Kulturvermittler tätig war. Er versuchte in seiner offiziellen wie auch inoffiziellen Funktion die gegenseitigen Stereotype zu überbrücken. Ob er dabei Erfolg hatte oder nicht, darüber kann man gespaltener Meinung sein. Aber seine Leistungen wurden bisher nur wenig aus einem komplexen wissenschaftlichen Blick heraus bewertet.“Mirek Němec weist auch noch auf ein weiteres interessantes Detail hin:
„Er war aber kein Kommunist beziehungsweise kein linksintellektueller Journalist, sondern eher das Gegenteil. Er war politisch und auch sonst konservativ, und auch deshalb ist er eine interessante und einzigartige Figur der Prager deutschsprachigen Literatur.“
Urzidil hat von sich selbst als „hinternational“ gesprochen. Das Adjektiv ist auch im Titel des Sammelbands zu finden. Der Historiker erklärt, was mit hinternational gemeint ist:
„Urzidil hat in der Erzählung 'Prager Triptychon', die er im Exil geschrieben hat, darauf aufmerksam gemacht, dass er 'hinternational' sei. Es bedeutet: 'Hinter den Nationen', nicht über oder unter ihnen. Nur so ließ es sich leben. Er will damit ausdrücken, dass er sich von der Ideologie des Nationalismus aus dem 19. und 20. Jahrhundert distanziert, dass er versucht, diese Ideologie zu überwinden. Es war keine Ideologie, die für sein Schreiben oder für seine Tätigkeit als Journalist oder Kunsthistoriker prägend war.“Im Laufe seines Lebens hat sich Urzidils Schaffen geändert. Versuchte er sich während seiner Schulzeit noch als Lyriker, so schrieb er als Journalist in den 1920er Jahren hauptsächlich politische Kommentare und Artikel. In den 1930er Jahren folgten dann erste Monographien, zum Beispiel das literaturhistorische Buch „Goethe in Böhmen“ oder das kunsthistorische Werk „Wenceslaus Hollar. Der Kupferstecher des Barock“. Zum Erzähler und Belletristikautor wird er aber erst im Exil, so Mirek Němec:
„In dieser Exilphase schreibt er nur noch ganz selten aktuelle politische Beiträge. Zur Frage des Kommunismus oder des kalten Krieges zum Beispiel findet man nur wenig von ihm.“Wichtiger ist es in Amerika für Urzidil, sich an Böhmen und Prag zu erinnern. Er bleibt dabei in seinen Erzählungen immer kritisch, aber auch leicht wehmütig. Václav Petrbok:
„Er hat seine alte Heimat nach dem Krieg nie wieder besucht, hat aber immer wieder seine böhmischen und Prager Erfahrungen bewertet und kritisch rezipiert. Er war dabei immer leidenschaftlich und engagiert, und auch diesem Aspekt haben sich mehrere Autoren in dem Sammelband gewidmet.“