Philosoph Jan Patočka: intellektueller Kopf und Symbolfigur der Charta 77
Der Philosoph Jan Patočka gehörte zu den Symbolen der Oppositionsbewegung Charta 77 und war ihr erster Sprecher. Im März hat sich zum 35. Mal sein Todestag gejährt. Patočka verstarb bereits wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Gründungsaufrufs der Charta vom 1. Januar 1977, und zwar an den Folgen der zermürbenden Verhöre durch die kommunistische Staatssicherheit. Wir erinnern im Folgenden an den aufrechten Denker.
Den Menschen betrachtete Patočka stets nicht nur als Individuum, sondern sah auch dessen Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen – Europa oder gar die gesamte Menschheit. Von seinem Umfeld verlangte er stets in diesen – heute würde man sagen – globalen Dimensionen zu denken.
Dazu gehörte auch der Anspruch, stets der Stimme des eigenen Gewissens zu folgen und Entscheidungen zu treffen, die – wenn sie auch nicht gesellschaftlich opportun erscheinen – aus moralischer Sicht richtig sind. Mit dieser Haltung musste Patočka auch zwangsläufig in einen Konflikt mit dem kommunistischen Regime geraten.
Patočkas Weg, der ihn in Opposition zum herrschenden Regime brachte, beschreibt der tschechische Philosoph und Patočka-Experte Jan Sokol, der auch Patočkas Schwiegersohn ist:„Patočka hat sich immer für Fragen von öffentlicher Bedeutung interessiert, aber der Politik, oder dem politischen Engagement ist er in seinem gesamten Leben eher aus dem Weg gegangen. Erst, als im Laufe der siebziger Jahre Fälle von offenkundiger Verletzung der Menschenrechte bekannt wurden, hat er dagegen Stellung bezogen und versuchte darauf hinzuweisen.“
Die Frage der Menschenrechte war in jener Zeit ein wichtiges Thema. Stichworte sind hier der KSZE-Prozess und die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975. Diese wurde auch von den kommunistischen Regierungen unterzeichnet, womit sie sich zur Einhaltung der Menschenrechte in ihren Ländern verpflichteten. In vielen dieser Länder sahen Bürgerrechtsaktivisten darin nun eine Gelegenheit, erstmals die Regierungen an ihren Taten zu messen. Da sich aber in der Folgezeit in der damaligen Tschechoslowakei auf dem Gebiet der Menschenrechte nur sehr wenig tat, formulierten die Oppositionellen ihre Forderungen in einem Aufruf, der am 1. Januar 1977 unter der Bezeichnung Charta 77 veröffentlicht wurde. Der Philosoph Jan Patočka gehörte zu dessen ersten Unterzeichnern. Historiker Tomáš Hermann vom Institut für Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften:
„Patočkas Wirken lässt sich in mehrere Phasen einteilen. Am Anfang stand seine Entscheidung, einer der drei ersten Sprecher der Charta 77 zu werden, was für die ganze Bewegung wichtig war. Auch im Ausland sorgte die klare Positionierung des anerkannten Philosophen für ein positives Echo. Schon zu diesem Zeitpunkt ist Patočka von den Sicherheitsorganen verhört worden, war aber nur einer von vielen. Das entscheidende und alles ändernde Ereignis aber trat ein, als sich Patočka Anfang März 1977 in Prag mit dem damaligen niederländischen Außenminister Max van der Stoel traf.“Die Reaktion der Regierung ließ nicht lange auf sich warten. Nach seinem Treffen mit dem niederländischen Politiker war Patočka einer sehr aggressiv geführten öffentlichen Kampagne ausgesetzt, die ihm körperlich sehr viel abverlangte. Es kam zu langen Verhören, im Laufe derer Patočka in ein Hospital eingeliefert werden musste. Auch zu diesem Zeitpunkt war er allerdings noch aktiv. Er verfasste praktisch vom Krankenbett aus Texte und Aufrufe, welche den Sinn und die Motive der Charta 77 der breiten Öffentlichkeit erklären sollten. Aber selbst im Krankenhaus wurde Patočka erneut mehrere Male verhört. Auf Grund der vielen Strapazen und der geistigen Erschöpfung erlitt er einen Schlaganfall, an dessen Folgen er starb.
Waren sich die Sicherheitskräfte des Risikos nicht bewusst, dass der bereits vor den Vernehmungen gesundheitlich angeschlagene Jan Patočka hätte sterben können und sein Tod das Ansehen des Landes im Ausland hätte ruinieren können? Dazu sagt der Historiker Tomáš Hermann:„Sie hätten sich dessen schon bewusst sein können, das stimmt. Aber wichtig scheint mir festzustellen, dass in erster Linie Patočka selber sich der Gefahren für seine Gesundheit vollständig bewusst gewesen war. Heute wissen wir, dass er sich auf diese entscheidende Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime intellektuell und mit großer Entschlossenheit vorbereitet hatte. Er ist dieses Risiko in vollem Bewusstsein eingegangen und hat den höchsten Preis dafür bezahlt.“
Welche Auswirkungen hatte der Tod Jan Patočkas auf die noch junge Oppositionsbewegung in der Tschechoslowakei? Bestand zum Beispiel nicht die Gefahr, dass die innerlich sehr heterogene Bewegung ohne ihren intellektuellen Kopf Patočka in die Brüche hätte gehen können? Oder hat sein Tod die Charta im Gegenteil gestärkt? Laut Hermann ist Letzteres eingetreten:
„Schon die eigentliche Bereitschaft Patočkas, sich an der Charta 77 zu beteiligen, führte dazu, dass verschiedene politische Strömungen bereit waren sich auf der Basis einer gemeinsamen Plattform zu vereinen. Mit dieser Entscheidung, wie auch seiner Bestimmung zum ersten Sprecher der Charta, stellte er seine große persönliche Autorität in den Dienst der Charta 77. Für viele Menschen wurde er somit zu einem Garanten für ihre Ziele. Die große Autorität Patočkas basiert vor allem darauf, dass er die wichtigsten Texte der Charta verfasst hat, die beim genaueren Hinsehen auch heute noch höchst aktuell sind.“ Die Gründung der Charta 77 rief ein breites Echo im Ausland hervor. Der Gründungsaufruf der Bewegung wurde im Januar 1977 von vielen westlichen Zeitungen abgedruckt, zum Beispiel von der französischen Le Monde, der New York Times, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und anderen Medien. Ähnlich stark und intensiv waren auch die Reaktionen des Auslands auf den Tod Professor Patočkas, wie der Historiker Tomáš Hermann vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften erklärt:„Der Tod von Jan Patočka sorgte für ein großes Echo im Ausland. Insbesondere für viele Philosophen war die Nachricht ein Schock. Patočka stand im engen Kontakt zum deutschen Philosophie-Professor Walter Biemel. Dieser organisierte schon zu Patočkas Lebzeiten, während der öffentlich geführten Hetzkampagne gegen ihn, eine Reihe von Protestbriefen. Nach Patočkas Tod war es wieder Biemel, der einen Protestbrief formulierte, der mittels der deutschen Botschaft in Prag an die tschechoslowakische Regierung übermittelt wurde. Rund 200 verschiedene Professoren aus Deutschland, Belgien, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Kanada, der Schweiz setzten ihre Unterschrift unter dieses Schreiben. Mir ist kein anderer Fall aus den siebziger oder achtziger Jahren bekannt, in dem eine derart repräsentative Auswahl an Intellektuellen der westlichen Welt öffentlich Position bezogen hätte, um einen ihrer Kollegen zu unterstützen.“
Dieser Beitrag wurde am 31. März 2012 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.