„Nun waren sie alle Bergleute“ - Josef Haslingers Roman „Jáchymov“ über Eishockey, Politik und Zwangsarbeit
Im vergangenen Jahr erschien das Buch „Jáchymov“ von Josef Haslinger. Der österreichische Schriftsteller geht in diesem Roman auf ein dunkles Kapitel der tschechischen Geschichte ein – nämlich auf die politischen Prozesse der 1950er Jahre und die Zwangsarbeit politischer Gefangener in den Uranminen in und um Jáchymov. Haslinger wählt eine besondere Person, um die Ereignisse zu schildern: den berühmten Eishockeytorwart Bohumil Modrý, der mitsamt der gesamten Eishockeymannschaft 1950 verurteilt wurde und im kommunistischen Gefängnis- und Lagersystem verschwand.
„Erstens ist Tschechien unser Nachbarland und zweitens ist es ein Land, durch das ich seit 16 Jahren mehr oder weniger jede Woche durchfahre. Ich habe dann beschlossen, nicht mehr nur einfach durchzufahren, sondern mir das Land auch anzusehen. So bin ich auch nach Jáchymov gekommen. Außerdem haben wir ja mittlerweile eine gemeinsame Struktur, eine gemeinsame politische Struktur. Als dieses Radiumsol-Heilbad in Jáchymov gegründet wurde, angeblich das erste der Welt, hatten wir auch eine gemeinsame Struktur, da war es ein Teil der österreich-ungarischen Monarchie, mittlerweile sind wir beide ein Teil Europas, also warum soll mich das nichts angehen?“
In Haslingers Buch wird die Geschichte des Eishockeytorwarts Bohumil Modrý erzählt, dessen Leben in Jáchymov endete – auch wenn er dort nicht starb. 1950 wurde er, gemeinsam mit der gesamten tschechoslowakischen Eishockeynationalmannschaft verhaftet und in einem Schauprozess zu 15 Jahren Haft verurteilt. Zunächst war er in verschiedenen Gefängnissen untergebracht und wurde dann in die Uranminen geschickt. Die Bedingungen für die Gefangenen waren furchtbar:
„Was immer sie im vorigen Leben gewesen waren, nun waren sie alle Bergleute, deren Leben sich hauptsächlich in feuchten Stollen abspielte und auf immer den gleichen Rhythmus von Bohren, Sprengen und Wegräumen festgelegt war. Wenn jemand die Arbeitsnorm nicht erfüllen konnte, musste er, in der mit radioaktivem Wasser getränkten Häftlingskluft und ohne Verpflegung, eine weitere Schicht durcharbeiten, um das Plansoll wieder einzuholen.“Haslinger wollte aber keinen Roman über das Leben im Lager oder über die Bedingen der Inhaftierten schreiben:
„Das wollte ich nicht. Das haben Menschen gemacht, die im Lager waren. Es gibt ja einige Bücher von Insassen, die den Gulag beschreiben. Ich konnte das nicht machen. Es gibt bestimmte Dinge, da sollte man lieber die Finger von lassen und ich habe mir gedacht, das ist so etwas. Es reicht ja, wenn ich das einkreise. Ich muss mich ja von der Gegenwart an diese Vergangenheit annähern. Ich kann ja nicht so tun, als ob ich da gewesen wäre.“Seine Erzählung hält sich an die Fakten, ist aber trotzdem ein fiktiver Roman. Der Wiener Verleger Anselm Findeisen trifft bei einem Kuraufenthalt in Jáchymov auf die Tochter Modrýs. Sie erzählt ihm die Geschichte ihres Vaters und ihre Verbindung zu dem Ort. Eigentlich hatte sie vorgehabt, eine Gedenkstätte der Arbeitslager zu besuchen, konnte es aber nicht über sich bringen. Findeisen ist von ihr und ihrer Geschichte beeindruckt. Er versucht sie dann zu überreden, ihre Geschichte niederzuschreiben:
„Viel lieber hätte ich, dass sie das alles aufschreiben […]. Gerade hier, wo man gerne im Windschatten der Geschichte gelebt hat, müssen solche Geschichten erzählt werden. Damit die Leute Europa verstehen lernen.“Die (fiktive) Tochter willigt ein und schreibt ein Manuskript über ihre Familiengeschichte. Dieses liest der Verleger Findeisen im Roman und bringt dem Leser dadurch die Welt der Tschechoslowakei vor und nach dem Zweiten Weltkrieg näher – und vor allem das Eishockey. Die Geschichte von Tochter und Vater Modrý vermischt sich mit der Erzählebene des Verlegers. Josef Haslinger erklärt, wie er die Figur Findeisen angelegt hat:
„Die Doppelgesichtigkeit von Jáchymov war für mich entscheidend. Nämlich, dass die einen dort hinfahren, um Heilung zu suchen, und ein wenig Heilung findet er dort ja auch Linderung, und die anderen wurden hingeschickt, um sie zu vernichten. Diese Doppelgesichtigkeit hat mich interessiert. Auf der einen Seite das Lagerleben, auf der anderen Seite der Kurbetrieb und so hat es sich also ergeben, dass ich die Figur so konstruiert habe. Obendrein hat natürlich die Körperlichkeit eine große Bedeutung in diesem Buch. Er war ja nicht nur Leidender, er war früher ja Sportler, er war ja einmal Fallschirmspringer.“Der Körperlichkeit widmet Haslinger viel Raum. Er berichtet über die Schmerzen des Verlegers, ein ehemaliger Fallschirmspringer, dessen Wirbelsäule sich zunehmend versteift und er erzählt ausführlich die Geschichte des frühen tschechoslowakischen Eishockeys und ihres bekanntesten Torwarts. Wie sich die Spieltechniken weiterentwickelten und wie die Mannschaft immer erfolgreicher spielte, von frühen Erfolgen in den 1930er Jahren und von der Fortsetzung nach dem Zweiten Weltkrieg. Vladimír Zábrodský, damals Trainer, Kapitän und Teamkamerad von Bohumil Modrý, erinnert sich:
„Den Sprung nach vorn, den machten wir faktisch dadurch, dass das Land von den Deutschen besetzt war. In dieser Zeit gab es nicht viele andere Vergnügen, also haben wir viel Sport getrieben. Unglaublich viele Leute liefen auf dem Eis und wir waren im Eislaufen, nachdem die Grenzen 1945 wieder geöffnet waren, sehr viel besser als die anderen Nationen.“
Die Jahre nach dem Krieg waren für das tschechoslowakische Eishockey goldene Jahre. Die Nationalmannschaft konnte Weltmeistertitel, Europameistertitel und eine Silbermedaille bei den Olympischen Spielen gewinnen. Nach den Spielen 1948 erhielt der Torhüter Modrý ein Angebot aus Kanada. Noch vor dem kommunistischen Umsturz genehmigte ihm der Informationsminister Václav Kopecký seine Ausreise, er solle lediglich noch einmal bei der Weltmeisterschaft in Schweden Gold für die Tschechoslowakei holen. Nachdem der Mannschaft dies tatsächlich im Frühjahr 1949 in Stockholm gelang, wollte Modrý mit einem Zwei-Jahresvertrag nach Kanada aufbrechen. Aber Kopecký erlaubte es nun nicht mehr. Noch einmal der Kapitän Vladimír Zábrodský:
„Als er um Erlaubnis bat, war er bei Minister Kopecký. Sie haben lange verhandelt und Kopecký hat ihm dann angeboten, dass er nach Russland gehen könne. Das war aber nicht sein Wunschziel.“
Enttäuscht vom gebrochenen Versprechen erklärte Modrý seinen Abschied aus der Nationalmannschaft. Im darauf folgenden Jahr 1950 wurde der Mannschaft die Reise zur Weltmeisterschaft nach London verboten. Aus Frust und Verärgerung verbarrikadierten sie sich in einer Prager Kneipe, tranken und riefen antikommunistische Sprüche. Mit diesen Ereignissen hatte Modrý nichts zu tun – verhaftet wurde er trotzdem. Beim Prozess wurde er zu 15 Jahren und damit zur höchsten Strafe aller Angeklagten verurteilt. Er verbrachte 5 Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Lagern, in Jáchymov selbst war er ein Jahr. 1955 wurde er amnestiert, seine Gesundheit war jedoch durch den Uranbergbau dermaßen angegriffen, dass er acht Jahre später an den Folgen der Strahlung verstarb. Josef Haslinger erklärt, wie viel Wahrheit in seinem Roman steckt:
„Alles, was den historischen Modrý betrifft ist die wirkliche Geschichte, was danach kommt hat hohen fiktionalen Charakter.“Auch wenn Haslinger im Roman eine fiktive Tochter sprechen lässt, hatte die wirkliche Tochter einen erheblichen Anteil an dem Buch:
„Sie war mir sehr behilflich und hat mir viele Dokumente, die ihren Vater betreffen, zur Verfügung gestellt. Dort, wo es historische Unklarheiten gab oder wo Fehler drin waren, haben wir das diskutiert. Sie hat das Manuskript durchgesehen, sie war natürlich vor allem dafür verantwortlich, was den historischen Teil anbetrifft. Was den fiktionalen Teil danach betrifft, da kann sie ja schwer etwas sagen, das ist ja meine Erfindung.“
Der Roman Jáchymov ist bisher nur auf Deutsch erschienen. Allerdings sind die Rechte an einer Übersetzung bereits an einen tschechischen Verlag vergeben worden. In Deutschland und Österreich ist das Buch sehr positiv aufgenommen worden, die anspruchsvolle Erzählebenen und die Verknüpfung von wahren Begebenheiten mit Fiktion wurden hoch gelobt. Sogar Angebote, den Stoff zu verfilmen, hat Haslinger bekommen. Ein Wunsch aus Tschechien hat ihn aber besonders erstaunt:
„Es gibt Einladungen, interessanter Weise von tschechischen Deutschlehrern, die möchten, dass ich in ihre Stunde komme und aus dem Roman vorlese. Sie würden das mit den Schülern auch vorbereiten. Und diese Deutschlehrer haben beide fast wortgleich dazu geschrieben: `Denn im Geschichtsunterricht lernen die Schüler das nicht´.“
Dieser Beitrag wurde am 3. Dezember 2011 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.