Jan Faktor, Jáchym Topol, Pavel Kohout – erste Bestenliste für Nachwendeliteratur
Auf Initiative des Adalbert-Stifter-Vereins in München ist in diesem Jahr eine Bestenliste böhmischer und mährischer Erzählliteratur erstanden. Ob Prager Frühling, ein Krimi zu Zeiten der letzten Tage des Nationalsozialismus oder bekannte Kinderliteratur: Auf der Bestenliste ist alles vertreten.
Erzählende Literatur, die sich inhaltlich mit der Geschichte Tschechiens und insbesondere Böhmens auseinandersetzt - darum geht es. Laut dem Adalbert-Stifter-Verein ist solche Literatur in den letzten Jahren zu kurz gekommen. Nach reifer Überlegung entstand in diesem Jahr daher die Bestenliste böhmischer und mährischer Erzählliteratur. Neben tschechische Autoren sollten auch deutschsprachige Autoren berücksichtigt werden. Peter Becher, Projektkoordinator und Geschäftsführer des Stifter-Vereins:
„Es sollte erzählende Literatur sein, keine Lyrik, keine Essays, keine Aufsatzbände. Des Weiteren sollten die Bücher in deutscher Sprache vorliegen. Sie mussten nicht in deutscher Sprache verfasst worden sein, sondern lediglich in einer deutschen Übersetzung oder eben auch in der Muttersprache.“
Die Werke sollten außerdem im Zeitraum von 1990 bis 2010 publiziert worden sein. Doch warum gerade dieser Zeitraum?
„Weil 1989 ein großer Einschnitt war, die Samtene Revolution, der Fall des Eisernen Vorhangs. Das dürfte in der europäischen Geschichte meiner Meinung nach sehr stark gewesen sein. Demnach ist absehbar und verständlich, dass man fragt, wie Schriftsteller auf diese Wende reagiert haben, ob sich die Thematik verändert hat, ob etwas Neues dazugekommen ist. Wie haben Autoren in dieser Spanne gearbeitet? Was haben sie gesehen, was haben sie thematisiert?“
Den ersten Platz mit 47 Punkten belegte „Blut ist kein Wasser“ von Josef Jedlička. Es handelt sich um eine Familienchronik, die 1991 posthum erschien. Aber auch noch lebende Autoren wie Jáchym Topol, Jiří Kratochvíl und Pavel Kohout mit seinem Werk „Sternstunde der Mörder“ findet man auf der Bestenliste. Über die Auswahl bestimmte eine Jury. Jeder Juror hatte die Möglichkeit, von sich aus zehn Bücher vorzuschlagen und mit einer Rangordnung zu versehen. Das erste Buch erhielt zehn Punkte, das zehnte Buch einen Punkt. Insgesamt 90 Titel kamen auf diese Weise zusammen. Die zehn Bücher mit der höchsten Punktzahl finden sich auf der endgültigen Liste. Den Juroren war die Entscheidung über die Auswahl der Bücher größtenteils frei gestellt. Dabei war die Jury - bestehend aus Kritikern, Slawisten und Germanisten - bunt gemischt:
„Der vielleicht bekannteste Juror ist Peter Demetz. In Prag geboren, hat er als Germanist einen weithin bekannten Namen. Zurzeit lebt er in den USA. Aus Österreich haben sich unter anderem der Karl-Markus Gauß aus Salzburg beteiligt und die Christa Rothmeier aus Wien.“
Auf die Bestenliste gewählt wurde auch ein Buch, das überwiegend in der Tschechoslowakei der 60er und 70er Jahre spielt. „Georgs Sorgen um die Vergangenheit im Reich des Heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ wurde mit einem guten sechsten Platz ausgezeichnet. Protagonist ist der Ich-Erzähler Georg. Hintergrund sind die Entwicklungen der Zeit: der Prager Frühling, seine Niederschlagung durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes und die nachfolgende neostalinistische Ära. Dazu der Autor des Buches, Jan Faktor:
„Es ist ein politisches Buch über die Zeit vor 1968 und über die Zeit der Normalisierung. Georg ist jemand, der in diese Zeit relativ heiter hineinwächst. Er kann die ganzen Verbrechen, die damals begangen wurden, nicht wirklich wahrnehmen. Er leidet nicht unter ihnen, wie andere Mensche zu dieser Zeit. Nach und nach entfaltet sich dann die politische Wahrnehmung Georgs. Es ist im Grunde genommen ein politischer Entwicklungsroman mit der ganzen Wut, die in Georg wächst, nachdem er in den 70er Jahren absoluter Gegner und Ausgegrenzter dieses Regimes wird.“
In einer der schönsten Wohngegenden Prags wächst Georg zwischen den Tanten mit Kriegstraumata, der Großmütter und der überstrahlend schönen Mutter auf. Es ist ein Frauenhaushalt, in dem Georg sich nach einer starken männlichen Persönlichkeit sehnt. Der tyrannische Onkel und der von der Mutter getrennt lebende Vater erfüllen diese Aufgabe nicht, ganz im Gegenteil. Dem eigenen Vater gegenüber empfindet Georg Abscheu. Dies niederzuschreiben hat den Autor, der in diesem Roman seine Kindheit verarbeitet, viel Zeit gekostet:
„Da ist sehr viel Hass hineingeflossen beim Verarbeiten dieser Vaterfigur. Der wohnt allerdings nicht in der Wohnung, er ist ausgelagert und lebt mit seiner neuen Frau in einer anderen Gegend Prags. Die Schilderung ist aber im Buch deutlich übertrieben gegenüber der Realität. Ich habe mich da auch sprachlich, literarisch und fiktiv sehr ausgetobt.“
Auch beim Titel des Werkes hat Jan Faktor sich ordentlich ausgetobt:
„Das Buch hieß ursprünglich nur ‚Georgs Sorgen um die Vergangenheit’. Ich wollte aber unbedingt klar machen, dass das Buch in Prag spielt, ein ‚Prag-Buch’ beziehungsweise ein tschechisches Buch ist, in deutscher Sprache. Und das Wort ‚Prag’ konnte ich vorne einfach nicht unterbringen. So hab ich es ganz unauffällig hinter dem extrem auffälligen Titel untergebracht. Somit ist das wichtigste Wörtchen in dem Titel eigentlich Prag.“
Auf dem zweiten Platz der Bestenliste, mit 46 Punkten, ist ein Buch, das eine große Zeitspanne umfasst: „Ein herrlicher Flecken Erde“ von Radka Denemarková. Die Autorin hat dafür sogar den wichtigsten tschechischen Buchpreis gewonnen, den Magnesia Litera.
Protagonistin des Buches ist Gita Lauschmannová, Tochter einer wohlhabenden Familie. Ihre Mutter ist Prager Tschechin, ihr Vater sudetendeutscher Großgrundbesitzer. In ihrem Heimatdorf Puklice stößt die Familie dadurch schon vor dem Krieg auf viel Ablehnung, und die Lage bessert sich nicht. Nach dem Einmarsch der Nazis erfährt Gita, dass sie Jüdin ist. Autorin Radka Denemarková:
„In diesem kleinen Dorf gibt es sehr viel Neid. Die Familie Lauschmann ist sehr reich und erfolgreich. Die Nachbarn gönnen ihnen diesen Wohlstand nicht und verraten sie an die Nazis.“
Von den Landsleuten als Staatsfeindin angesehen, von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt: Die Ablehnung ihrer Mitmenschen zieht sich wie in roter Faden durch den gesamten Roman. Nach Ende des Kriegs und Jahren der Qual in Auschwitz kehrt die mittlerweile 16-jährige Protagonistin in ihr Dorf zurück. Im Gepäck: ihre jugendliche Naivität. Fernab der Realität erhofft sie sich, dass ihre Familie am Tisch sitzen und nur auf sie warten würden - auf sie, die sich bloß verspätet hat. Doch im vertrauten Heim sitzt keiner ihrer Verwandten. Der Familienbesitz wurde konfisziert, fremde Menschen sitzen nun an genau an dem Tisch, den sie in trauter Erinnerung zurücklassen musste.
In der fiktiven Erzählung vor dem Hintergrund wahrer Ereignisse geht es auch darum, wie sich Menschen instinktiv Opfer suchen und diese terrorisieren. So wird Gita nach der Zeit in Auschwitz wieder Opfer: Sie wird von den Dorfbewohnern vertrieben. Erst nach 60 Jahren schafft sie es, nach Puklice zurückzukehren. Doch auch die nächste Generation reagiert unaufgeschlossen:
„Eltern lehren den Kindern immer wieder dieselben Klischees, dieselben Vorstellungen, dieselben Vorurteile, wie das richtige Leben gelebt werden soll“, so Radka Denemarková.
Und so ist Gita abermals dem Terror der Dorfbewohner ausgeliefert. Um die Familie zu rehabilitieren, bleibt sie jedoch diesmal stark.
Bei der Bestenliste mit Nachwende-Literatur soll es nicht bleiben. Eine weitere Liste mit neuen interessanten Werken ist in Arbeit und soll noch im Mai dieses Jahres herausgegeben werden. Dabei stehen Bücher zur Auswahl, die im Zeitraum von 1969 bis 1989 erstmals publiziert wurden. Peter Becher hält diese Bestenlisten schließlich für sinnvoll:
„Wenn man sich die deutschen Feuilletons in unseren Zeitungen anschaut, treten Bücher mit tschechischen Themen, tschechische Autoren oder deutsche Autoren, die böhmische Themen behandeln, kaum noch in Erscheinung. Wir wollten mit der Liste einfach ein wenig darauf hinweisen, dass in dem Bereich viel geschrieben wurde, dass zum Teil hochinteressante und hoch differenzierte Bücher erschienen sind und dass es auf alle Fälle wichtig wäre, auf diese stärker hinzuweisen.“