„Eine freie, informelle und offene Gemeinschaft“ - 35 Jahre Charta 77
Das Jahr 2011 ging für die Tschechen mit einem traurigen Ereignis zu Ende: Eine Woche vor Weihnachten starb der Dramatiker, Ex-Präsident und ehemalige Dissident Václav Havel. Er war eine Ikone des Widerstands gegen das kommunistische Regime, und er war Mitinitiator, Sprecher und Unterzeichner des bekanntesten Projekts dieses Widerstands: der Charta 77. Am 1. Januar feierte die Charta 35. Jubiläum.
Am Anfang stand die Musik, spielte doch die Unterdrückung der Band „Plastic People of the Universe“ eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Charta 77. Im Februar 1976 wurde die Band nämlich während eines Konzerts verhaftet und auch die Zuhörer wurden teilweise brutal verhört. Dies war der Auslöser für eine Reihe von Intellektuellen, eine Petition an ihre eigene Regierung zu richten. Anna Šabatová, Vorsitzende des tschechischen Helsinki-Ausschusses, war damals dabei:
„Es waren mehrere Leute, eine Gruppe von Menschen wie Jiří Němec, Václav Havel, Zdeněk Mlynář, Petr Uhl, Pavel Kohout und noch viele weitere, die ich nicht alle nennen kann. Sie trafen sich und überlegten, ob man nicht etwas unternehmen muss.“
Gerade ein Jahr zuvor, 1975, hatte nämlich die tschechoslowakische Regierung in der Schlussakte von Helsinki eine Reihe von Menschenrechten anerkannt und sie in das tschechoslowakische Recht übernommen. Die Intellektuellen wollten der Führung zeigen, wie heuchlerisch das war. Die erste große Gelegenheit dazu bot sich nach der Verhaftung der „Plastic People of the Universe“. Anna Šabatová:„Ein weiterer Impuls war das Zusammentreffen mehrerer Gruppen beim Prozess gegen die „Plastic People“. Bei mehreren Treffen im Dezember 1976 wurde also entschieden, dass es nötig sei, eine gemeinsame Erklärung als gemeinsame Aktion abzugeben, die langfristig wirken werde und zeigen sollte, dass die Tschechoslowakei die Menschenrechte nur auf dem Papier einhielt.“
Und so wurde am 1. Januar 1977 die Charta 77 veröffentlicht, unterschrieben von zunächst 242 Intellektuellen. Zu den Verfassern und ersten Unterzeichnern gehörten der Dramatiker Václav Havel, der Philosoph Jan Patočka und der ehemalige Außenminister Jiří Hájek. Am 7. Januar erschien die Charta in mehreren europäischen Zeitungen, in Deutschland in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In Tschechien wurde die Petition selbst nicht veröffentlich, allerdings sorgte das Regime selbst für seine Verbreitung, da es sofort eine heftige Gegenkampagne startete. Das Parteiblatt „Rudé právo“ bezeichnete die Charta als:„antistaatliche, antisozialistische, gegen das Volk gerichtete, demagogisch Hetzschrift, die in grober und verlogener Weise die Tschechoslowakische sozialistische Republik und die revolutionären Errungenschaften des Volkes verleumdet.“
Das Regime organisierte eine eigene Petition, die Anti-Charta. Zur Unterzeichnung wurden am 28. Januar 1977 Künstler, Schauspieler und andere Kulturschaffende in das Nationaltheater eingeladen. Die Schauspielerin und überzeugte Kommunistin Jiřina Švorcová erklärte dort:
„Wir verachten diejenigen, die sich in unbezähmbarem Hochmut und eitler Überheblichkeit, aus egoistischem Interesse oder sogar für dreckiges Geld wo auch immer in der Welt - und auch bei uns wurde jetzt eine solche Gruppe von Abtrünnigen und Verrätern gefunden - von den eigenen Menschen, ihrem Leben und ihren wirklichen Interessen abgrenzen und isolieren. Sie werden mit unerbitterlicher Logik zu einem Werkzeug der antihumanistischen Kräfte des Imperialismus und in ihren Diensten zu Sprechern der Zersetzung und des Unfriedens zwischen den Völkern.“Die Anti-Charta mussten in der Folgezeit alle Kulturschaffenden unterschreiben, die weiter in der Tschechoslowakei tätig sein wollten. In kürzester Zeit hatten mehr als 2000 Künstler das Dokument unterzeichnet.
Gegen die Unterzeichner der Charta 77 reagierte das Regime aber auch mit direkten Maßnahmen. Mehrere der Unterzeichner wurden in Untersuchungshaft genommen, unter ihnen der Philosoph Jan Patočka. Nach einem Verhör am 13. März 1977 musste er ins Krankenhaus gebracht werden und starb an den Folgen eines Hirnschlags. Anna Šabatová erinnert sich:
„Er war das erste Todesopfer, viele Menschen wurden aber auch eingesperrt. Ich muss sagen, dass der Einfluss von Patočka trotz seiner kurzen Zeit als Sprecher der Charta enorm groß war. Er kämpfte mit seinen Essays gegen die Ungerechtigkeit.“
Gerade die Reaktionen der kommunistischen Führung machten die Charta 77 im ganzen Land bekannt. Im Laufe des Jahres wurden immer wieder Listen von Unterzeichnern veröffentlicht, trotzdem blieben die Charta-Aktivisten eine kleine Gruppe. Bis Ende 1977 hatten knapp 2000 Menschen die Petition unterschrieben, was angesichts der staatlichen Repressalien eine beachtenswerte Leistung ist – eine Massenbewegung ist daraus aber nie entstanden. Eine politische Bewegung zu formen war auch nie der Anspruch der Charta 77 gewesen, es ging eher darum, sich für die Menschenrechte einzusetzen, wie aus einem Auszug hervorgeht:
„Die Charta 77 ist eine freie, informelle und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugungen, verschiedener Religionen und verschiedener Berufe, verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung der Bürger- und der Menschenrechte in unserem Land und in der Welt einzusetzen.“Der Historiker Petr Blažek vom Institut für das Studium totalitärer Regime erklärt, woher dieser Ansatz stammt:
„Dieses sich starr am Gesetz orientierende Vorgehen war nicht neu, es wurde nach dem August 1968 erfunden in der Umgebung von jenen Schriftstellern, die nicht publizieren durften, zum Beispiel Pavel Kohout und Václav Havel.“
Ein Vorgehen also, das die Verfasser der Charta bereits früher ausprobiert hatten. Was erhofften sie sich davon, auf rechtliche Normen hinzuweisen? Noch einmal Petr Blažek:
„Das Vorgehen war eindeutig. Sie nutzten die Möglichkeiten, die ihnen die Rechtsordnung gewährt hat. Sie haben versucht, diese Ordnung konsequent einzuhalten. Und sie haben einer möglichen Diskussion mit dem Regime Raum gegeben, obwohl ihnen klar war, dass es zu keiner solchen Diskussion kommen würde. Sie wollten das Regime in eine Position manövrieren, in der es offensichtlich war, dass es sowohl die eigenen Gesetze als auch internationale Verpflichtungen nicht einhielt.“
Ob diese Taktik letztlich zum Erfolg geführt hat, lässt sich nicht abschließend beantworten. Sicher ist nur, dass viele Unterzeichner der Charta 77 freiwillig oder unfreiwillig ins Exil gingen und andere Berufsverbote erhielten. Aus diesem eher informellen Dissidenten-Netzwerk ging dann 1989 das Bürgerforum hervor, und Václav Havel, Mitbegründer der Charta 77 wurde der erste frei gewählte Staatspräsident der Tschechoslowakei nach der Wende.