„Moralist ist bei uns ein Schimpfwort“ - Marie Nováková über das neue Schulfach Ethik
Mit Beginn des neuen Schuljahres wird es in Tschechien erstmals Ethikunterricht an einigen Grundschulen geben. Nach jahrelanger Diskussion hat das Schulministerium jetzt grünes Licht dafür gegeben. Anders als in Deutschland oder der Slowakei wird Ethik nicht als Alternative zum Religionsunterricht angeboten, denn den gibt es im atheistischen Tschechien ausschließlich an den wenigen kirchlichen Schulen. Umso mehr, meinen die Verfechter des Ethikunterrichts, sollten die Schüler schon in den ersten Klassen mit Fragen von Moral und Ethik konfrontiert werden. Kritiker hingegen befürchten eine Indoktrinierung der Kinder. Eine der engagiertesten Verfechterinnen dieses Fachs ist Marie Nováková. Sie unterrichtet seit vielen Jahren Ethik im Rahmen anderer Schulfächer und hat einen Leitfaden für ethische Erziehung entworfen, der dem Schulministerium als Grundlage für die Einführung des Faches diente. Silja Schultheis hat sich mit Marie Nováková unterhalten.
„Das Projekt Ethikunterricht kommt ursprünglich aus Spanien, von Roberto Roche Olivar und ist dann allmählich über die Slowakei – wo es seit zwölf Jahren Ethikunterricht gibt – nach Tschechien gelangt. Ich selbst bin 1998 damit in Berührung gekommen. Ich habe damals in einer Plattenbausiedlung mit vielen sozialen Problemkindern gearbeitet und dieses Modell hat mich sofort überzeugt. Um 1999 ist dann die Bürgerinitiative ‚Ethisches Forum’ entstanden und hat sich dafür stark gemacht, dass das Schulministerium Ethikunterricht in seine Rahmenpläne aufnimmt. 2004 gab es eine Petition – ursprünglich war das eigentlich ein offener Brief von mir. Der konkrete Anlass war, dass einer meiner ehemaligen Schüler Selbstmord begangen hatte. Und es war ganz offensichtlich, dass nicht persönliche Probleme der Grund waren, sondern seine Sorge über den Zustand unserer Gesellschaft. Und da war mir klar, dass wir nicht länger schweigen dürfen. Aufgrund dieser Petition hat dann der Senat dem Schulministerium empfohlen, Ethikunterricht in seine Rahmenpläne aufzunehmen. Und jetzt ist es soweit.“
Haben Sie eine Vorstellung, wieviele Schulen das Fach ab September tatsächlich anbieten? Es wird ja kein Pflichtfach sein und die Schuldirektoren können selbst entscheiden, ob das Fach an ihrer Schule angeboten wird oder nicht…„Es stimmt: Dass es das Fach gibt, ist das eine, aber ob es auch tatsächlich in den Schulen angeboten wird, ist das andere. Die Entscheidung ist für die Schulen alles andere als leicht. In unserer Gesellschaft ist Ethikerziehung nicht gerade populär. ‚Moralist’ ist beinahe ein Schimpfwort. Ich schätze, dass es gegenwärtig etwa 40 Schulen gibt, die Ethik in irgendeiner Form in den Unterricht einbauen würden – sei es als Wahlfach, als AG oder in Kombination mit einem anderen Fach.“
Es gibt auch viele Kritiker dieses neuen Schulfachs – Sie haben vorhin erwähnt, dass ‚Moralist’ in Tschechien ein Schimpfwort ist. Wovor haben die Kritiker Ihrer Meinung nach Angst, was befürchten Sie am meisten?
„Ich würde sagen, ein großer Teil der Kritik beruht auf Uninformiertheit. Das ist ein großer Schwachpunkt. Und dann – jetzt will ich nicht ungerecht sein – aber bei Ethikerziehung geht es auch um innere Werte. Und davor haben manche Leute Angst, weil dabei unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen könnten. Naja, und dann ist da noch der unglückliche Vergleich mit religiöser Erziehung. Auch zweischneidig: Die einen befürchten, dass Ethik eine Konkurrenz zur Religion ist, die anderen, dass es versteckte Religion ist.
Sie sind Autorin eines Leitfadens, der dem Schulministerium als Grundlage gedient hat für die Formulierung von Richtlinien für den Ethikunterricht. Wie sollte in ihren Augen der Unterricht konkret aussehen?
„Ja, diese Richtlinien sind 2006 erschienen, unter dem Titel „Wie soll man Ethik unterrichten?“. Die erste Auflage war innerhalb von drei Monaten vergriffen. Das Modell von Roberto Roche Olivar und Ladislav Lenc, das wir darin vorstellen, basiert stark auf persönlichem Erleben. Zunächst einmal geht es um die Sensibilisierung für ein Thema, dann aber auch um die Einübung konkreter Verhaltensweisen, in der Schule und später dann auch im wirklichen Leben.“
Dafür bedarf es geeigneter Lehrer – Kritiker sehen hier den Kern des Problems und befürchten, dass Ethikunterricht kontraproduktiv ist, wenn er von Pädagogen unterrichtet wird, die dafür nicht ausgebildet sind.
„Dieses Argument ist berechtigt. Bislang wurden ein paar hundert Lehrer ausgebildet für dieses Schulfach. Es müsste aber noch viel mehr Weiterbildungskurse geben. Denn wenn wir mit Schuldirektoren sprechen und sie motivieren wollen, Ethikunterricht anzubieten, hören wir oft die Reaktion: Wenn ich geeignete Lehrer hätte, dann ja. Ich meine, hier sind auch die Eltern gefragt. Sie sollten sich für eine Schule entscheiden, wo Ethik angeboten wird und damit zeigen, dass ihnen dieses Fach wichtig ist.“
Wäre es nicht besser gewesen, das Fach erst dann einzuführen, wenn es die entsprechenden Lehrkräfte dafür gibt?
„Ich glaube, wir haben keine Zeit. Ich arbeite seit Jahren mit jungen Leuten und würde sagen, dass eine Schwalbe schon helfen kann. Als mein ehemaliger Schüler damals Selbstmord begangen hat, habe ich gedacht, dass wir wirklich alles tun müssen. Und wenn jeder nur einem Kind das Leben erleichtert, dann ist das schon viel. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Und wenn es erst einmal nur ein paar Schulen sind, dann ist das besser als nichts. Die Situation wird nur jedes Jahr schlimmer.“
Wodurch unterscheidet sich in Ihren Augen die Situation in Tschechien von der in anderen Ländern? Ist Ethikunterricht hier besonders nötig?
„Auf jeden Fall ist die Situation bei uns sehr akut. Ob sie schlechter ist als in anderen Ländern, weiß ich nicht, aber sie ist sehr, sehr alarmierend. Das größte Problem ist, dass wir als Gesellschaft unfähig sind zu kommunizieren und Beziehungen einzugehen. Und genau darum geht es in der Ethikerziehung.“