Vom Militärstützpunkt zur jüngsten Stadt Tschechiens: Milovice
Der mittelböhmische Ort Milovice / Milowitz war selbst nie ein Schauplatz der Geschichte. Dennoch hat die Geschichte in ihm tiefe Fußstapfen hinterlassen. Rund ein Jahrhundert lang war bei Milovice ein großes militärisches Übungsgelände. Errichtet wurde es 1904 für die Armee Österreich-Ungarns. 1968 wurde daraus das größte Lager der sowjetischen Streitkräfte: Über 100 000 Sowjetbürger, Soldaten, Offiziere und deren Familien, lebten in Milovice. Erst nach 23 Jahren zogen die Russen wieder ab. Später wurde das Übungsgelände aufgelöst und Milovice zur Stadt erhoben. Nun wäre Milovice wieder eine Landgemeinde wie jede andere – wären da nicht jene Fußstapfen der Geschichte im Gelände wie im Bewusstsein der Menschen. Maria Hammerich-Maier hat sich erkundigt, was Milovice heute aus sich macht.
Bürgermeister Milan Kraus ist in Milovice aufgewachsen. Er verbindet mit der Geschichte der Stadt und ihrer Militärbasis sehr persönliche Erinnerungen.
„1968 kamen die Truppen des Warschauer Pakts. Die meisten meiner Mitschüler aber waren Kinder von Offizieren der tschechoslowakischen Volksarmee. Damals wurde einfach beschlossen, dass diese Garnison weg muss. Und so waren in meiner Klasse von rund 30 Schülern am Jahresende nur noch eine Handvoll übrig.“
Ähnlich einschneidende Umwälzungen wiederholten sich in Milovice mehrfach. Am Beginn des 20. Jahrhunderts war der Ort ein Bauerndorf in einem klimatisch begünstigten Landstrich nahe der Elbe. Dann kaufte das Wiener k. u. k. Reichskriegsministerium hier Land auf und widmete es 1904 zum Truppenübungsplatz für die beiden Armeekorps um, die in Böhmen lagen. Von da an begleiteten Soldaten und Militärs das Leben in Milovice.„Ich weiß noch aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, wo ein Schneider seine Werkstatt hatte, der Uniformen nähte, oder ein Schuster, der für die Soldaten Schuhe herstellte. Die ganze Wirtschaft diente dem Militär.“
Die Aufgaben der Militärbasis und auch die Garnisonen wechselten. Im Ersten Weltkrieg wurde auf dem Übungsgelände ein Gefangenenlager errichtet, in das 25.000 russische, italienische und serbische Soldaten verbracht wurden. Nach Kriegsende übernahm die tschechoslowakische Armee das Übungsgelände, und 1939 okkupierte es die Wehrmacht und bemächtigte sich der dort lagernden Waffen und Ausrüstung. 1968 schließlich verdrängten die Besatzungstruppen des Warschauer Pakts die Garnison der tschechoslowakischen Volksarmee aus Milovice. Die Geschichte des Ortes war bewegt. Die alteingesessenen Bürger von Milovice lernten dabei, dass jeder Lage etwas Gutes abzugewinnen sei. Auch Bürgermeister Kraus hat gute Erinnerungen an seine Kindheit:„Wann immer wir Lust hatten, konnten wir auf den Flugplatz gehen, in ein Flugzeug steigen oder auf einen Panzer klettern oder eine Maschinenpistole in die Hand nehmen. Das hat natürlich allen Jungen in der damaligen Zeit Spaß gemacht.“Die folgenschwerste Periode war zweifellos die der sowjetischen Okkupation. Von 1968 bis 1991 lagen im Rücken des Dorfes Milovice Truppen von der Stärke einer Großstadt. Auf dem Übungsgelände entstand eine autonome Siedlung aus Mietskasernen, Generalsvillen, Läden, einem Krankenhaus und sogar einem Leichenhaus. Unter und über der Erde entstanden streng geheime militärische Anlagen, deren rätselhafte Umrisse noch heute im Gelände aufragen: verzweigte Systeme von Bunkern, Lager, Kommandostellen, ein Militärflugplatz. Heute ist das Gelände mit öden Ruinen übersät, die die Stadtverwaltung vor schier unlösbare Aufgaben stellen.
Als am 30. Juni 1991 der letzte sowjetische Soldat abzog, blieben von den über 100.000 Menschen in Milovice nur etwa 1000 Einwohner zurück. Doch das Rad der Geschichte dreht sich nicht zurück. Milovice wurde kein Ort wie jeder andere. So stieg die Zahl der Einwohner wieder und liegt heute bei 10.000. Viele sind wegen des billigen Wohnraums hierher gekommen, wie auch diese Bewohner einer revitalisierten Siedlung am einstigen Militärflugplatz Boží Dar.„Wir sind aus Prag hierhergezogen. Dort wohnten wir in Untermiete, und hier haben wir eine Eigentumswohnung gekauft. Die Wohnung war sehr billig und ist recht schön. Alles in allem ist es hier nicht schlecht.“
„Wir sind schon vier Jahre hier. Für das Geld, mit dem wir hier eine neu renovierte Dreizimmerwohnung gekauft haben, bekommt man in Prag höchstens eine Garage. Und wenn ich frei habe, bin ich hier gleich im Wald. Dort kenne ich einen wunderbaren Ort, an dem Pilze wachsen. Und zum Freibad sind es auch nur drei Kilometer. Das einzige, was mir hier fehlt, sind ein Laden oder eine Gaststätte.“Bürgermeister Milan Kraus weiß um die Wünsche der neuen Mitbürger, wie Geschäfte, Gehsteige und Busse. Doch die Stadtkasse erlaube es nicht, sie alle zu erfüllen. Das rasche Wachstum bringe auch Probleme mit sich, sagt Kraus:
„Die Menschen ziehen hierher und wollen Wurzeln schlagen. Doch es gibt keine Arbeitsplätze. Also pendeln sie nach Prag. Am Abend kehren sie zurück und übernachten hier. Erst allmählich entstehen Vereine, ein Kulturleben und ein sozialer Zusammenhalt. Die Leute kennen sich nicht. Viele ziehen wieder weg, und die Einwohnerschaft wechselt.“
Die gute Nachricht dabei ist, dass in Milovice seit 1991 viel geschah. Der Boden des Sperrgebiets wurde von Sprengkörpern gesäubert – ein Millionenaufand. Nun ist das Gelände fast gefahrenfrei, nur chemische Verunreinigungen belasten den Boden noch. Ein Teil der Bausubstanz wurde erneuert. So verwandelte sich das Militärlager im Ortsteil Mladá in ein modernes Wohnviertel, in das seither tausende Menschen zuzogen. Die Infrastruktur von der Kanalisation bis zu Supermärkten ist neu. Gegenüber der Ruine der ehemaligen sowjetischen Schule steht heute ein neuer Kindergarten – riesengroß, denn in Milovice gibt es viele Kinder. Unter den Zuzüglern überwiegen nämlich junge Familien.„Milovice wurde schon früher auch ‚Stadt der Zukunft’ oder ‚Stadt der Jugend’ genannt. Und tatsächlich liegt der Altersdurchschnitt unserer Bevölkerung bei nur 28 Jahren.“
Binnen zwei Jahrzehnten ist aus der Geisterstadt so die jüngste Stadt Tschechiens geworden. 10 bis 20 Prozent der Menschen, die nach Milovice zogen, sind Schätzungen zufolge allerdings hier nicht gemeldet. Für sie bekommt die Gemeinde kein Geld aus der Staatskasse. Jana Křížová von der Kulturabteilung findet daher, dass Milovice eine neue Identität brauche:„Milovice hat jetzt die Chance, neue Traditionen und ein Identitätsgefühl zu entfalten. Doch das braucht Zeit. Wir wollen, dass Milovice eine vitale Stadt wird, in der die Menschen gerne leben und Aktivitäten entfalten, sei es in der Kultur oder im Sport. Sicher spielt dabei auch die Militärgeschichte eine Rolle.“
Damit schließt sich der Kreis. In der Ortsmitte steht die Kirche der heiligen Katharina. Sie spiegelt wie ein Medaillon die faszinierende Dynamik, die Milovice prägte. Die heutige, neugotische Kirche von Milovice wurde als Ersatz für eine zerstörte barocke Kirche gebaut, die 1904 bei der Errichtung des Truppenübungsgeländes geschliffen wurde. Das Interieur dieser Kirche der heiligen Katharina erhielt später einen besonderen Schliff. 1915 und 1916 bemalten Kriegsgefangene aus Wolhynien die Wände mit volkstümlich ornamentalen Motiven. Die Wandmalereien der fünf rechtgläubigen Maler aus dem Osten sind ein Unikat in Mittelböhmen.Auch eine zweite Denkwürdigkeit von Milovice rührt von der Militärbasis her: der so genannte „Italienische Friedhof“.
„Wir werden den italienischen Friedhof im September in die Tage des europäischen Kulturerbes eingliedern. Wir wollen, dass ihn die Menschen besuchen und hier Vorträge gehalten werden.“
Viele Kriegsgefangene des Lagers in Milovice verstarben im Ersten Weltkrieg an Typhus oder Auszehrung. An die 6000 Soldaten fanden auf dem italienischen Friedhof ihre letzte Ruhstatt. Und so wird man selbst im neuen Milovice auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit des Ortes als Militärbasis erinnert.„Die Geschichte hat hier bleibende Spuren hinterlassen. Die können in einer und auch in zwei Generationen nicht ausgelöscht werden. Milovice wird der Beiname ‚Militärstadt’ noch lange anhaften.“
Auch das hat zweifellos seine guten Seiten.
Fotos: Autorin