Ein ehemaliger Bundeskanzler und zwei Ex-Außenminister über den 17. November 1989

Wie haben diese alles entscheidenden Novembertage des Jahres 1989 diejenigen miterlebt, die mitten drinnen waren im Geschehen? Wir sind dieser Frage nachgegangen und präsentieren ihnen die Erlebnisse dreier dieser Personen: ein ehemaliger Dissident und Heizer, der über Nacht zum Außenminister wurde, der damalige österreichische Bundeskanzler mit dem tschechischen Namen und ein prominenter Forst- und Gastwirt, der als Menschenrechtsaktivist ebenfalls von einem auf den anderen Tag zum wichtigen Mitarbeiter des neu gewählten tschechoslowakischen Präsidenten Václav Havel wurde.

Jiří Dienstbier, heute 72 Jahre alt, gelernter Rundfunkjournalist, zählte als Student zu den glühenden Unterstützern des Prager Frühlings, der 1968 von den Truppen des Warschauer Pakts niedergewalzt wurde. Später unterzeichnete Dienstbier als einer der ersten die regimekritische „Charta 77“. Von den Kommunisten verfolgt und mit Berufsverbot belegt, schlug er sich mit verschiedensten Tätigkeiten durch, zuletzt arbeitete er als Heizer bei der Prager U-Bahn-Baufirma „Metrostav“. Nach dem Rücktritt der kommunistischen Regierung in der Folge der Massendemonstrationen im November 1989 wurde er quasi über Nacht tschechoslowakischer Außenminister. Er war es, der an den bisher hermetisch bewachten Westgrenzen seines Landes symbolisch den Eisernen Vorhang durchbrach. Die Bilder, wie Dienstbier und seine Außenminister-Kollegen Hans-Dietrich Genscher in Deutschland sowie Alois Mock in Österreich mit einer großen Zange den Stacheldraht zerschneiden, gingen um die Welt. Zwanzig Jahre später erinnert sich Jiří Dienstbier, der heute für die Sozialdemokraten im Senat des tschechischen Parlamentes sitzt, im Radio-Prag-Interview an die wohl aufregengendsten aber auch anstrengendsten Tage in seinem Leben.

Herr Senator Dienstbier, wie haben Sie denn das Jahr 1989 erlebt?

„Na, was glauben Sie? Über 20 Jahre haben wir darauf hingearbeitet. Im Prager Frühling, ja sogar noch früher, in den Sechzigern. Für uns war 1989 der Gipfel der 30-jährigen Bemühungen. 1968 hatten wir Erfolg, aber dann sind die Russen gekommen. Danach mussten wir weitere 20 Jahre um eine grundlegende Änderung des politischen Systems kämpfen. Genauso, wie in den Sechzigerjahren; alles hat von vorne begonnen. Und dann kam der 17.November 1989 und plötzlich hatten wir gar keine Zeit, irgendetwas zu genießen. Ich bin sofort nach Bratislava gefahren, denn in den Nachrichten kam noch nichts über die Ereignisse in Prag. Auf der ersten großen Versammlung in Bratislava habe ich den Bürgern erzählt, was in Prag passiert ist. Wir waren es, die als erste den Kontakt hergestellt haben, noch bevor die Medien berichtet haben.“

Dann sind Sie ja wieder nach Prag zurück gekehrt. Was hat Sie dort erwartet?

Jiří Dienstbier
„Ja, ich bin nach Prag zurück und man hat mich zum Sprecher der Bürgerforums ernannt. Jeden Tag um fünf Uhr habe ich Konferenzen für 200 einheimische und internationale Journalisten abgehalten. Da waren so viele Fernsehteams dabei, wie nie zuvor bei allen Pressekonferenzen zusammen. Und dann haben die Dinge ihren weiteren Lauf genommen. In der Woche vor dem 10. Dezember hat auf dem Wenzelsplatz eine Menge von einer Million Menschen gerufen ‚Das Bürgerforum in die Regierung’. Da mussten wir schnell Kandidaten nominieren. Am Dienstag war ich noch Heizer und am Samstag Außenminister der Tschechoslowakei. Ich hatte also dauernd eine Menge zu tun. Wenn mich jetzt Leute nach meinen Gefühlen damals fragen, dann sage ich: das war Arbeit, eine Menge Arbeit. Aber eine großartige.“

Sie sind also am 10. Dezember 1989 tschechoslowakischer Außenminister geworden. Was war denn ihre erste Auslandsreise?

symbolische Akte. Wir haben damit aber der Welt gezeigt, dass der Eiserne Vorhang tatsächlich abgebaut wird. Am 2. Januar 1990 war ich mit Präsident Havel in Berlin und München, danach in Warschau. Da hat dann ein richtiges Besuchs-Karussell begonnen, auch nach Prag sind jede Menge ausländische Politiker gekommen. Gleich nach meiner Ernennung im Dezember 1989 habe ich auch alle Botschafter der EG-Länder zu mir bestellt, um ihnen mitzuteilen, dass wir am Prozess der Europäischen Integration teilnehmen wollen. Noch am selben Tag hat auch Premier Marian Čalfa diesbezüglich einen Brief an den Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, geschickt.“

Sie mussten auch nach Moskau, um dort Bericht zu erstatten über die Lage in der Tschechoslowakei. Wie hat man dort, beim nunmehr ehemaligen „großen Bruder“, auf die Samtene Revolution reagiert?

„Ich habe meinem Außenminister-Kollegen Edvard Schewardnadse gesagt, dass wir als erstes einen Vertrag über den Abzug der sowjetischen Truppen aus der Tschechoslowakei schließen müssen. Er hat das mit einem Lächeln hingenommen. Aber die Bürokraten, die neben Schewardnadse saßen, haben mich entsetzt angeschaut, nach dem Motto: ‚Was will der Vertreter dieses Satellitenstaates?’ Aber sie haben auch gesagt: ‚Na gut, richten wir eine Kommission ein, die darüber beraten wird.’ Mitte Januar ist dann

Jiří Dienstbier mit Edvard Schewardnadse  (Foto: ČTK)
schließlich ein stellvertretender Minister mit einer großen Delegation in Prag aufgetaucht. Zwei Tage haben wir diskutiert. Dann sind die Russen draufgekommen, dass sie kein Mandat haben, um weiterzuverhandeln. ‚Na gut, dann machen wir in Moskau weiter’, habe ich gesagt. Nachdem 14 Tage lang nichts passiert ist, ist Jan Kubiš, der spätere slowakische Außenminister, nach Moskau gefahren und dort jeden Tag ins Außenministerium marschiert. Ich habe derweil in Prag jeden Tag den sowjetischen Botschafter vorgeladen. Als dann immer noch nichts passiert ist, haben wir uns gesagt ‚Na gut’ und zwei Armeegeneräle und drei Diplomaten ins Flugzeug gesetzt und ihnen gesagt, sie fliegen jetzt nach Moskau. Und tatsächlich ist uns dieses Husarenstück gelungen: wir haben vor Weihnachten über den Truppenabzug zu verhandeln begonnen und am 25. Februar haben wir in Moskau das Abkommen unterzeichnet. Alles in allem war das eine großartige Zeit damals.“


Auf der anderen Seite des soeben überflüssig gewordenen Eisernen Vorhanges stand einer jener mehreren zehntausend Wiener mit tschechischem Nachnamen: Franz Vranitzky, von 1986 bis 1997 österreichischer Bundeskanzler. Der heute 72-jährige Sozialdemokrat sagt im Gespräch mit Radio Prag, für ihn hätten die politischen Ereignisse in der Tschechoslowakei im Herbst 1989 auch aus persönlichen Gründen eine besondere Bedeutung:

„Ich habe diese Zeit damals auch deshalb mit einigem Gefühlsdruck erlebt, weil meine Familie ursprünglich aus Tschechien nach Österreich eingewandert ist. Irgendwie ist Tschechien das Land, welches mir von allen ehemaligen Ostblockländern am nächsten steht. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass ich mit der Vorgänger-Regierung den einen oder anderen Strauß auszufechten hatte. Einmal, weil sie den Václav Havel eingesperrt haben und ein anderes Mal wegen ein paar Grenzverletzungen, und daher war es mir schon besonders sympathisch, dass jetzt etwas Anderes kommt.“

Sind Sie dann schon bald nach der Wende in die Tschechoslowakei gefahren, in offizieller Mission als Bundeskanzler?

„Ja, bin ich. Sowohl zu Václav Havel und dann zu Václav Klaus, als dieser Premierminister geworden ist. Auch mit seinem Vorgänger, Marian Čalfa, habe ich mich getroffen. Außerdem war ich in einigen Industriebetrieben zu Besuch. Später war ich dann als Berater einer deutschen Bank in Tschechien. Es war also ein reger Verkehr über die Grenze.“

Václav Havel mit Václav Klaus,  1991  (Foto: ČTK)
Sie haben also den politischen und wirtschaftlichen Wandel in der Tschechoslowakei und in Tschechien hautnah miterlebt. Wie war es denn ganz zu Beginn, als Sie zum ersten Mal „drüben“ waren, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges?

„Im Hotel, in den Gaststätten war eigentlich eine, ich würde sagen typisch tschechische, gute Laune. Es war überhaupt nicht dramatisch; es hat nicht nach Shakespeare geklungen, eher nach Jaroslav Hašek.“


Einer der wenigen, die auch in Zeiten des Kalten Krieges den Eisernen Vorhang regelmäßig passierten, war Karel Schwarzenberg. 1937 in Prag geboren, mussten der Fürst und seine Familie nach dem kommunistischen Putsch im Jahr 1948 die Tschechoslowakei verlassen. Adelige waren in der Republik der Werktätigen unerwünscht. Schwarzenberg lebte fortan in Wien und der Schweiz als „Forst- und Gastwirt“, wie er angesichts der großen Besitztümer seiner Familie vielleicht etwas zu bescheiden in seinem Lebenslauf schreibt. 1984 wurde er Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte und verstärkte sein Engagement für die Bürgerrechte in seiner Heimat.

Wie hat Karel Schwarzenberg den alles entscheidenden 17. November 1989 erlebt, als die Demonstrationen in Prag auf ihrem Höhepunkt angelangt waren und das Fass schließlich zum Überlaufen brachten?

„Den berühmten 17. November, an dem der Umsturz in der Tschechoslowakei begonnen hat, habe ich versäumt. Ich war an diesem Tag gerade in Ungarn, in der Nähe von Debrecen. Plötzlich kam jemand zu mir und sagte: ‚Kommen Sie zum Fernseher. Wir schauen gerade slowakisches Fernsehen. Da tut sich etwas’. Ich habe natürlich sofort meine Sachen zusammengepackt und bin nach Wien zurückgefahren, um so schnell wie möglich nach Prag zu kommen. Allerdings, die damalige tschechoslowakische Botschaft hat den Visum-Antrag mit der Begründung abgelehnt, ich sollte doch wissen, dass ich in der ČSSR eine unerwünschte Person sei.“

Etwa eine Woche später habe er dann plötzlich einen Anruf von der Botschaft bekommen. Er könne sein Visum natürlich jederzeit abholen. Gesagt getan. Karel Schwarzenberg brach sofort nach Prag auf, um die Dissidenten persönlich zu unterstützen. Gut einen Monat später war die Machtübernahme vollbracht:

„Dann kam der 29. Dezember 1989, an dem im Wladislav-Saal in der Prager Burg der neue Präsident gewählt wurde: es war Václav Havel. Und ich habe gedacht, hiermit ist also diese abenteuerliche Phase meines Lebens beendet und ich werde mich nun wieder friedlich der Forstwirtschaft widmen. Plötzlich kam einer auf mich zu und sagte: ‚Der Präsident lädt dich zum Mittagessen ein.’ Ich gehe also in die Burg hinein und da war tatsächlich ein schlichtes Mittagessen vorbereitet, das sich aber sofort in ein Arbeitsessen verwandelt hat. Statt sich seiner Freude über das eben Errungene zu widmen, hat Václav Havel gesagt: ‚So, ich habe euch hier versammelt, weil ihr müsst jetzt etwas tun.’ Jedem, der da um den Tisch herum saß, hat er sein Amt zugeteilt.“

Karel Schwarzenberg wurde zunächst mit der Koordinierung des Kontaktes zu den auf der ganzen Welt verstreuten Exiltschechen beauftragt, später wurde er zu einem der persönlichen Berater von Václav Havel und Leiter der Präsidentschaftskanzlei.