Jugendliche helfen Jugendlichen - das Projekt „Raddar“ in Most

Nicht Sozialarbeiter, sondern Gleichaltrige helfen Jugendlichen mit Problemen. Dies ist ein relativ neuer Ansatz aus den USA, der erstmals auch in Tschechien umgesetzt wird. Und zwar im nordböhmischen Most / Brüx, einem sozialen Brennpunkt allein schon wegen der hohen Arbeitslosigkeit von derzeit über 16 Prozent. Das dortige Sozialprojekt heißt „Raddar“: Jugendliche und junge Erwachsene mit Problemen in Schule, im sozialen Umfeld und ohne Arbeit bekommen dabei den Kontakt zu einem Freiwilligen in ihrem Alter. Dieser freiwillige Mentor und sein gleichaltriger Klient versuchen gemeinsam die Probleme anzugehen.

Ava ist eine der freiwilligen Mentorinnen bei Raddar in Most / Brüx. Sie hilft Roman, der 18 geworden ist, aus dem Kinderheim neu nach Most gekommen ist und jetzt sein Leben selbst organisieren muss. Zweimal in der Woche treffen sie sich. Ava erzählt, welche Herausforderungen es zu meistern gilt:

„Im Moment fangen wir an, die gröbsten Probleme zu lösen. Wir müssen zuerst eine Wohnung finden, damit der Junge nicht auf der Straße landet. Danach suchen wir Arbeit. Wichtig ist aber auch, ihm Ideen für die Freizeit zu vermitteln. Da gehen wir zum Beispiel schwimmen.“

Die Idee des Mentoring kommt aus Amerika. Das ursprüngliche Projekt in den USA hieß „Big Brother / Big Sister“. Es geht aber nicht um die populäre Show aus dem Wohncontainer, sondern darum, dass der Mentor und der Jugendliche gemeinsam die Probleme des Alltags lösen. Im Idealfall entsteht zwischen beiden später eine Freundschaft. Der Jugendliche bekommt einen neuen Blickwinkel, ändert sein Umfeld oder seine Gewohnheiten. Das bedeutet „Mentoring“ und so funktioniert auch das Projekt Raddar in Most, das im Übrigen vom Europäischen Sozialfonds unterstützt wird.

„Die Idee wurde in Tschechien zum ersten Mal in einem Projekt umgesetzt, das sich an Kinder und Jugendliche bis 15 Jahre richtete. Wir finden den Ansatz sehr gut und wollen ihn deshalb jetzt auch für ältere Jugendliche nutzen, die ein schwaches soziales Umfeld haben und aus Kinderheimen kommen“, so die Projekt-Initiatorin Kateřina Malá.

Die Jugendlichen, die in das Projekt eingebunden sind, haben häufig keinen Bock auf Kontrolle; sie haben aber oft auch keine Ahnung, wie sie ihr Leben gestalten können. Sie sind volljährig, aber stecken meist noch in der Pubertät. Sie brauchen Freunde und ganz praktische Hilfe. Kateřina Malá schildert, wie die ersten Tage von Ava und Roman in Most aussahen:

„Den Jungen, der jetzt neu zu uns gekommen ist, hatte Ava bereits vor seinem Auszug aus dem Heim kennen gelernt. Weil er ganz neu war in der Stadt, hat sie sich die ersten zwei Tage mit ihm getroffen, die Stadt gezeigt. Eine Kollegin hat den beiden Suppe nach Hause gebracht. Das hat Roman ein bisschen aus der Einsamkeit herausgeholt. Roman musste beispielsweise ins Rathaus und Ava hat ihm gezeigt, wie man zum Beispiel die Formulare ausfüllt.“

In einem nicht ganz neuen, zentral gelegenen Geschäftshaus in Most hat Raddar seine Räume. Ein quietschender Paternoster führt hinauf zum freundlich eingerichteten Büro von Kateřina Malá. Wie Roman kommen viele Jugendliche aus dem Kinderheim hierher:

Illustrationsfoto
„Oft sind es Kinder, die aus irgendeinem Grund von ihren Familien getrennt wurden und ins Kinderheim kamen. Wenn sie 18 werden, ist die Zeit im Heim abrupt vorbei. Sie kehren zurück nach Most, haben aber Probleme, Fuß zu fassen. Ihnen wollen wir mit dem Mentoring helfen, in der Gesellschaft ihren Weg zu finden“, so Malá.

Die Gratwanderung zwischen Freundschaft, Anteilnahme und Zurückhaltung kann für die Mentoren manchmal ganz schön schwierig sein. Ava Tvárůžková beschreibt, was ein idealer Mentor tun und was er lassen muss:

„Der Mentor soll den Jugendlichen nicht bemuttern, auch kein Geld borgen. Das kommt immer mal wieder vor und geht meistens schief. Er muss den Jugendlichen aber respektieren und unterstützen und ihn auch loben. Ich finde, der Mentor ist eine Art professioneller Freund, zur Hälfte Freund und zur Hälfte Ratgeber.“

Ihre anfängliche Naivität sei im Lauf der Zeit einer realistischen Betrachtungsweise gewichen, sagt Ava. Die junge Frau weiß, dass sie nur auf einen Bruchteil der sozialen Probleme reagieren kann, die sie wahrnimmt. Dazu kommt, dass Ava schon Grenzen der professionellen Freundschaft im Rahmen des Projekts kennen lernen musste:

„Mir hat mal ein Jugendlicher das Handy geklaut. Das war besonders traurig, weil ich mich in der Zeit sehr engagiert habe, vielleicht mehr als nötig. Aber auch damit muss man umgehen können. Für mich war das eine Lektion.“

Einige Freiwillige haben nach solchen Erlebnissen aufgegeben. Dabei sollen sie den Heimkindern und gefährdeten Jugendlichen gerade auch Durchhaltevermögen vermitteln. Dazu braucht es eine gewisse Abgrenzung, findet Ava:

„Wer als Mentor am Anfang die Tendenz hat, sich übermäßig zu engagieren, bleibt normalerweise nicht besonders lange. Man muss sich klarwerden, dass es wahnsinnig viele Kinder auf dieser Welt gibt, die irgendwie Hilfe brauchen. Man kann nicht einem einzigen plötzlich völlig verfallen. Damit hilft man ihm nicht. Während des Projektes sind wir Bekannte, und die wirkliche Freundschaft entsteht eher hinterher.“

Ava wirkt ruhig und ausgeglichen. Trotzdem bedrückt es sie, wenn sie erlebt wie zum Beispiel Jugendliche aus Roma-Familien behandelt werden. Sie sagt ganz klar – wer dunkle Haut hat, hat es in der tschechischen Gesellschaft schwerer. Daran ändert ihr persönlicher Einsatz leider wenig:

„Ich setze mich schon lange gegen Diskriminierung ein. Viele potentielle Arbeitgeber in Most kennen mich. Wenn ich dann in einer Firma anrufe und nach Arbeit für einen Jugendlichen frage, sagen sie mir ins Gesicht: Ava, wenn das ein Zigeuner ist, dann nicht.“

Most / Brüx
Die Mentoren geraten häufig in die Rolle, die Jugendlichen vor der Gesellschaft beschützen zu müssen. Kateřina Malá berichtet, was auch passieren kann: „Es gibt hier viele Firmen, die die Jugendlichen schwarzarbeiten lassen. Die Jugendlichen aus dem Kinderheim kommen dort hin, arbeiten den ganzen Monat, warten auf ihren Lohn. Und die Firma bezahlt einfach nicht.“

Vor solchen schwarzen Schafen können die Mentoren die Jugendlichen bewahren. In früheren Projekten ist es den meisten Jugendlichen schließlich gelungen, einen Job und eine Wohnung zu finden. Ava Tvárůžková hat mit vielen noch nach Jahren ein gutes Verhältnis. Vor ein paar Wochen wurde sie sogar als Trauzeugin auf die Hochzeit von Ondřej eingeladen, dem sie vor zwei Jahren Starthilfe ins selbstständige Leben geleistet hat.

„Er hat seine Ex-Frau wieder geheiratet und mich zu seiner Hochzeit als Trauzeugin eingeladen. Soviel Vertrauen hat er mir geschenkt.“

Ava macht sich wieder auf den Weg, sie will noch aufs Wohnungsamt, für Roman ein Formular holen. Ausnahmsweise macht sie das für ihn, sagt sie, aber nur, weil das Amt sowieso auf ihrem Weg liegt.