Botschaftsflucht 1989 – Wie nahmen Tschechen die Ereignisse wahr?

Lobkowicz-Palais

Das Lobkowicz-Palais, in dem die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland untergebracht ist, hatte sich vor genau 20 Jahren in ein riesiges Flüchtlingslager für tausende DDR-Bürger verwandelt. Am 30. September 1989 verkündete der damalige bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in seiner berühmten Rede vom Botschaftsbalkon aus, dass ihr Weg in den Westen frei ist. Wie aber wurden die für die deutsche Geschichte so bedeutsamen Ereignisse von den Tschechen wahrgenommen? Der Historiker Vratislav Vaníček arbeitete damals - im Herbst 1989 - im Enzyklopädischen Institut in unmittelbarer Nähe der deutschen Botschaft. Patrick Gschwend hat sich mit ihm – 20 Jahre danach – dort getroffen.

Foto: ČTK
„Um den Kleinseitner Platz herum standen Trabis an den Straßenrändern, wo natürlich ein Halteverbot galt. Ich war zuerst überrascht und dachte es handelt sich um eine Straßensperrung oder so etwas. Ich bin also zur Arbeit gegangen, und als ich später zurückkehrte, sah ich, dass die Trabis immer mehr wurden und sie dort schon in zwei Reihen standen. Allmählich breiteten sich die Trabis auch in die umliegenden Straßen aus. Ich war in dieser Zeit selbst Besitzer eines Trabis. Meine Frau sagte immer, das sei ein Auto mit Seele. Ich selbst war mir da aber nie so sicher. In jedem Fall aber hatten die deutschen Trabis eine Seele. Sie waren immer mit schönen Kissen und Dekorationen um die Lenkräder ausgeschmückt. Es war zu sehen, dass dies die typisch deutsche Gemütlichkeit war.“

So beschreibt Vaníček seine ersten Eindrücke von der massenhaften Flucht der DDR-Bürger in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Schnell aber wurde den Pragern - und damit auch Vaníček und seinen Kollegen im Enzyklopädischen Institut - die politische Dimension der Ereignisse rings um die Botschaft der Bundesrepublik bewusst.

Alexander Dubček
„Die Leute hörten auf zu arbeiten und diskutierten darüber, was eigentlich vor sich ging. Der Leiter unseres Instituts hatte selbstverständlich eine hohe Funktion in der kommunistischen Partei, auch die stellvertretende Vorsitzende der Partei gehörte unserem Institut an. Und alle zusammen befanden sich in einem Schockzustand und fragten sich was da gerade passierte.“

Bereits in dieser Zeit wurden auch in der Tschechoslowakei die Rufe nach Veränderungen immer lauter, gerade auch angesichts der Reformpolitik Gorbatschows in der Sowjetunion. Doch bei den tschechoslowakischen Kommunisten herrschte große Unsicherheit. Die hierarchischen Strukturen in Partei und Staat bauten auf der Ablehnung der Reformen Dubčeks aus der Zeit des Prager Frühlings 1968 auf. Eine Zustimmung zu Perestroika und Glasnost hätte gleichzeitig auch eine Rehabilitierung der Dubček-Reformen von 1968 nach sich ziehen müssen, für die kommunistischen Hardliner in der tschechoslowakischen Staatsführung undenkbar. Dieses Dilemma spiegelte sich im Herbst 1989 auch im Enzyklopädischen Institut wider. Dort arbeitete auch die Ehefrau Vaníčeks.

BRD-Botschaft in Prag,  1989
„Meine Frau und ich sagten sofort: ‚Das ist doch toll, dass es den Leuten um die Freiheit geht, und dass sich etwas ändert.’ Die Parteikader in unserem Institut erstarrten förmlich und versanken in einer Art Meditation. Sie gaben zwar eine nebulöse Anordnung heraus, dass wir uns da nicht einmischen sollten, aber im Prinzip warteten sie darauf, dass irgendein Befehl von oben kommt. Aber der Befehl von oben kam nicht.“

Vaníček und seine Frau ignorierten die „nebulöse Anordnung“ sich nicht einzumischen. Sie zeigten DDR-Flüchtlingen den Weg zur Botschaft der Bundesrepublik. Einer Frau mit zwei Kindern halfen sie, ihre Habseligkeiten bis vor das sichere Botschaftstor zu tragen, wo westdeutsche Polizeibeamte die Ausweise der Flüchtlinge kontrollierten.

Die Hilfsbereitschaft Vaníčeks und seiner Frau war damals nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit. In der tschechoslowakischen Gesellschaft hatte sich seit dem Zweiten Weltkrieg hartnäckig eine antideutsche Haltung bewahrt, die sich während des ostdeutschen Flüchtlingsstroms zunächst aufs Neue entlud. Das spürte Vaníček auch auf der Arbeit:

BRD-Botschaft in Prag,  1989
„Einige im Institut sagten: „Diese Ostdeutschen, jetzt behindern sie uns auch noch mit ihren Autos hier überall.’ In dieser Äußerung steckte eine Verachtung für die DDR-Bürger, dabei gab es nichts Konkretes zu beanstanden.“

Es herrschte jedoch Angst vor einem harten Durchgreifen der Polizeikräfte. Doch das blieb aus. Die tschechoslowakischen Medien schwiegen die Ereignisse in und um die bundesdeutsche Botschaft zunächst tot. Erst als die Situation schon außer Kontrolle geraten war, schaltete sich auch das staatliche Fernsehen ein.

„Die Kommunisten hatten sich da eine Provokation ausgedacht. Es begannen Krankenwagen mit Sirene und Blaulicht durch die Straße zu fahren. Denn dort oben ist ein Krankenhaus. Es gab zwar zwei Möglichkeiten dorthin zu fahren, aber sie sind dann absichtlich immer durch die von Menschen verstopfte Straße gefahren. Das war der Moment, in dem das Fernsehen begann darüber zu berichten. Es wurde so präsentiert, dass die DDR-Bürger den Weg zum Krankenhaus versperrten für Patienten, die sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befanden und bei denen es auf jede Minute ankam. Dazu muss man sagen, dass die Leute hier sehr diszipliniert waren. Es war sehr wohl möglich hier hindurch zu fahren, auch wenn es für die Fahrer unangenehm war zwischen all den Leuten. Aber natürlich wirkte sich das auch auf die Nerven der Flüchtlinge negativ aus. Hinzu kamen ständig hupende Polizeiautos. Es wurde gezielt versucht eine Atmosphäre der Angst zu erzeugen.“

BRD-Botschaft in Prag,  1989
Doch alle Schikanen der Staatsmacht blieben erfolglos. Langsam aber sicher kippte die Stimmung in der Bevölkerung zugunsten der DDR-Flüchtlinge. Den Tschechoslowaken wurde plötzlich bewusst, dass sich tatsächlich etwas bewegte im Ostblock, erzählt Vaníček.

„Das Auftreten der Deutschen hier hat die Mentalität der Tschechen verändert. Sie wurden sich plötzlich bewusst, dass die Wende tatsächlich da ist, und sie haben begonnen die Dinge positiv zu betrachten. Das war auch bei uns im Enzyklopädischen Institut zu spüren. Die Angestellten dort waren plötzlich auch alle für den Wandel und für Reformen.“

So hätten die Ereignisse in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland eine Art Übergangsphase auch für den politischen Wandel in der sozialistischen Tschechoslowakei dargestellt, meint Vaníček. Er persönlich kann die Botschaftsflucht der DDR-Bürger und den Sturz des kommunistischen Regimes auch mit einer Anekdote aus seiner Erinnerung verknüpfen. Ein junger Mann aus der DDR hatte Vaníček gebeten einen Wodka für ihn zu kaufen, um sich in der Nacht etwas aufmuntern zu können. Vaníček und seine Frau kauften den Wodka, einen guten in einer schönen Flasche, um ihre Sympathie zu bekunden. Aber als sie mit der Flasche zurückkamen, hatte die Polizei den Zugang zur Botschaft schon versperrt. Fast zwei Monate später, am 17. November 1989 war die Zeit gekommen, um die Flasche Wodka zu öffnen.

November 1989 in Prag
„An diesem Tag begannen auf dem Campus in Prag-Albertov die Studentendemonstrationen gegen das Kommunistische Regime. Meine Frau und ich waren auch dort, aber als sich der Studentenmarsch gegen Abend zunächst in Richtung Vyšehrad und nicht in Richtung Zentrum bewegte, dachten wir, es würde sich nichts mehr tun. Wir sind dann auf einen Besuch zu Bekannten gefahren und haben den Wodka dort geöffnet. Später haben wir erfahren, dass der Marsch der Studenten der Beginn der Samtenen Revolution war.“

Wenige Monate später kam die Revolution auch im Enzyklopädischen Institut an. Die Parteikader wurden entfernt. Vaníčeks Ehefrau wurde mit der Leitung des Instituts beauftragt. Er selbst wurde Mitglied in einem Ausschuss, der die tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften reformieren sollte. Heute lehrt Vratislav Vaníček als Professor für Geschichte an der Technischen Hochschule in Prag.