Tschechien diskutiert über Strategien gegen den wachsenden Extremismus
Neonazi-Aufmärsche gehören fast schon zum Alltag in Tschechien. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem die rechtsextreme Arbeiterpartei und ihre Anhänger, nicht durch irgendeine Stadt des Landes marschieren. Politiker und Bürgerinitiativen sind besorgt. Geradezu verängstigt ist hingegen die tschechische Roma-Minderheit. Die Roma sind von den Rechtsradikalen als Hauptfeind erkoren worden. Im Zusammenhang mit den erhöhten Aktivitäten der Neonazis ist in Tschechien eine öffentliche Debatte über den Extremismus in der Gesellschaft entbrannt.
Auch wenn die Ermittlungen in diesem speziellen Fall noch nicht abgeschlossen sind: die tschechische Roma-Minderheit ist das Hauptziel der tschechischen Neonazis und ihres stärksten politischen Arms, der Arbeiterpartei. Erklärungen der Partei bedienen sich unverhohlen der Naziterminologie und sprechen von „der Lösung der Roma-Frage“. In den vergangenen Wochen und Monaten verstärkten die Arbeiterpartei und ihre Anhänger ihre Aktivitäten im öffentlichen Raum deutlich, wie Jiří Houba, der Stellvertreter des tschechischen Polizeipräsidenten, zu berichten weiß:
„Im Jahr 2007 haben wir 26 Fälle von öffentlichen Auftritten, Märschen oder anderen Versammlungen registriert. Im Jahr 2008 waren das schon 39 und derzeit kommt es fast jede Woche zu irgendeiner öffentlichen Versammlung oder Marsch der Rechtsextremisten.“
Das Beunruhigende: In Problemvierteln werden die Rechtsradikalen geradezu von den Einwohnern herbeigerufen. Das drastischste Beispiel ist Janov, ein Stadtteil des nordböhmischen Litvínov: Die Plattenbausiedlung wird hauptsächlich von Angehörigen der Roma-Minderheit bewohnt. Einwohner von Janov fühlen sich durch die Roma bedroht, die angeblich Passanten ausrauben und Leute auf dem Weg zur Arbeit verspotten. Mehrfach marschierten dort im vergangenen Jahr martialisch gekleidete Rechtsradikale in Bomberjacken und Springerstiefeln auf und lieferten sich dabei Auseinandersetzungen mit Roma oder Polizisten. Im November eskalierte die Situation. Circa 600 Rechtsradikale verwickelten etwa 1000 Polizisten in eine mehrstündige Straßenschlacht. Anwohner standen daneben und applaudierten. Klára Kalibová von der Bürgerinitiative Toleranz betrachtet diese Zustimmungsbekundungen mit großer Sorge:
„Im Jahr 2008 zeigte sich zum ersten Mal, dass Menschen aus bürgerlichen Gesellschaftsschichten sich offen auf die Seite der Neonazis stellten. In Orten, wo Probleme mit den Roma existieren, glauben mittlerweile viele Menschen, dass die Rechtsradikalen diese Probleme lösen könnten.“
Trotz solch schockierender Gewaltausbrüche wie in Litvínov und Vítkov und den beinahe wöchentlichen Aufmärschen der Arbeiterpartei scheinen die Statistiken des Innenministeriums zunächst eine andere Sprache zu sprechen. Ihnen zufolge sind die Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund seit Jahren rückläufig. Doch der Schein trügt. Über ihren politischen Arm, die rechtsextreme Arbeiterpartei, loten die Extremisten mittlerweile mit Hilfe von Rechtsanwälten gezielt die Freiräume in der Gesetzgebung aus. Ihre Aktionen kratzen bewusst an der Grenze zur Straftat, überschreiten sie aber nicht. Delikat dabei: Offenbar gibt es Anzeichen dafür, dass die Rechtsextermen über Kontaktpersonen in den kommunalen Ämtern mit wichtigen Informationen versorgt werden, wie sie ihre Aufmärsche genehmigen lassen können. Martin Linhart, Leiter der Abteilung Sicherheitspolitik im tschechischen Innenministerium, ist besorgt:„Wir haben drei negative Trends festgestellt. Das ist zum Ersten diese Professionalisierung bei der Planung und Durchführung von öffentlichen Aktionen. Das war in der Vergangenheit nicht üblich. Ein weiterer Trend ist die Radikalisierung und ihre Verlagerung in diese Straßenkämpfe. Und der dritte Trend ist die Erhöhung der Aktivitäten im politischen Bereich. Der ist für uns einer der Schlimmsten.“
Die tschechischen Neonazis übernehmen hiermit die dreifache Strategie ihrer deutschen Gesinnungsgenossen: der Kampf um die Straße, um die Köpfe und um die Parlamente. Dem Kampf auf politischer Ebene wollte man bereits im Frühjahr Einhalt gebieten. Ein Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme Arbeiterpartei scheiterte allerdings kläglich. Verfassungsrichter bezeichneten im März den Verbotsantrag aus dem Innenministerium als mangelhaft ausgearbeitet. Wann man den nächsten Versuch startet, die Arbeiterpartei zu verbieten, steht in den Sternen. Auch im Kampf um die Straße schienen die Behörden bislang die Zügel locker zu lassen. Fassungslosigkeit herrscht auf allen Seiten über die Erteilung der Genehmigungen für die steigende Zahl von Neonazi-Märschen, die sensible Orte wie Roma-Siedlungen passieren. Eine erste Reaktion des scheidenden Kabinetts von Premierminister Mirek Topolánek, soll die Verabschiedung einer Novelle zum Versammlungsgesetz sein. Die Anmeldefrist für öffentliche Versammlungen soll von drei Kalendertagen auf drei Werktage geändert werden. Damit sollen die Rathäuser mehr Zeit bekommen, über Genehmigungen oder Verbote von Neonazi-Aufmärschen zu entscheiden. Zudem will das Innenministerium die Vertreter der Kommunen in Zukunft besser schulen, zum Beispiel, was die restriktive Auslegung des Versammlungsgesetzes angeht. Der noch amtierende Minister für Minderheiten und Menschenrechte, Michael Kocáb, sieht aber nicht nur den Staat in der Pflicht.„Wenn nicht eine breite Öffentlichkeit ihre Solidarität mit den Roma bekundet und guten Willen zeigt, könnte der Extremismus gerade jetzt während der Wirtschaftskrise noch weiter zunehmen.“
Und genau hier scheint die Lösung des Problems am schwierigsten. In Tschechien bestehe eine historisch bedingte Toleranz gegenüber rechtsradikalen Umtrieben, beklagt die Bürgerrechtsaktivistin Klára Kalibová.„In der Tschechischen Republik ist lange Zeit diese Ablehnung des Neonazismus als linke, anarchistische und nicht-bürgerliche Position verstanden worden, als Position gegen den Staat, der dabei sicher auch eine Rolle spielt.“
Umgekehrt stehen gerade die Roma in der Gunst der Tschechen am untersten Ende der Skala. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Stem von Anfang April deckte auf, dass nur 12 Prozent der Tschechen einen Roma als Nachbarn akzeptieren würden. Der scheidende Innenminister Ivan Langer forderte in einem Interview mit der Tageszeitung Právo – eine Woche nach dem Brandanschlag von Vítkov - die tschechischen Roma auf, sich ihrer Schlüsselrolle im Kampf gegen den Extremismus bewusst zu werden. Gleichzeitig gab er zu verstehen, dass die Lösung des Problems schwierig sei, wenn „Menschen, die täglich arbeiten gehen, um sich und ihre Familien zu ernähren, mit Menschen konfrontiert würden, die Arbeit prinzipiell ablehnten und ihre Kinder nicht in die Schule schicken“. Ob solch provokante Äußerungen zu einer höheren Akzeptanz der Roma in der Gesellschaft führen, ist zumindest fragwürdig. Michael Kocáb hat eine andere Idee. Er will eine Arbeitsgruppe zusammenstellen, die der Gesellschaft Impulse für den Kampf gegen die Extremisten geben soll.„Darin sollten die klügsten Köpfe unseres Landes vertreten sein. Soziologen, Theologen, Juristen, Philosophen, Politiker, Historiker, kurz gesagt moralische Autoritäten, die in der Lage sind, Meinungen zu generieren, die als Hintergrund für das Handeln der Regierung und der politischen Parteien dienen können.“
Kocábs Vorhaben wird von fast allen Experten begrüßt. Polizeifunktionär Houba sieht in der möglichen Entstehung dieses Think-Tanks auch ein Zeichen an die Roma:„Wenn ich das aus der Sicht der Opfer der Straftaten betrachte, wäre das ein starkes Signal des Vertrauens, zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der Roma-Minderheit.“
Die Roma in Tschechien aber fürchten zunächst um ihre Sicherheit. Das Vertrauen, dass der Staat sie gegen die Neonazi-Angriffe schützt, ist erschüttert. Auf der letzten Kabinettssitzung der scheidenden Regierung am Montag steht indes der Kampf gegen den steigenden Extremismus in Tschechien ganz oben auf der Liste.