Presseschau: Lissabon und Brünn hielten Europa in Atem
Herzlich Willkommen zum Medienspiegel. Heute wollen wir uns voll und ganz dem Lissabon-Vertrag widmen. Genauer gesagt: dem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts in Brünn. Wir schauen heute in die tschechischen und – ausnahmsweise – auch mal in die ausländischen Kommentarspalten.
Jan Macháček von der Wochenzeitschrift „Respekt“: „Für das Allerwichtigste überhaupt an der Entscheidung des Verfassungsgerichts über den Lissabon-Vertrag halte ich die Tatsache, dass diese Institution ihre Emanzipation und Unabhängigkeit bestätigt hat. Es gibt offenkundig so etwas wie institutionelles Bewusstsein, Ehre und Stolz. Die einzelnen Richter scheren sich nicht darum, wer sie in ihre Funktion ernannt hat und wer einige von ihnen abermals ernennt. Es ist nicht zum ersten Mal geschehen, dass sich das Verfassungsgericht gegen den Präsidenten gestemmt hat. Das ist ist für unsere liberale Verfassungsdemokratie die allerbeste Nachricht.“
Petr Uhl geht in seinem Kommentar für die Tageszeitung „Právo“ auf das Argument von Präsident Klaus ein, die Tschechische Republik verliere durch Lissabon ihre Souveränität:„Die Reden über den Verlust der Souveränität sind Humbug. Klaus möchte nur nicht seinen Einfluss auf jene verlieren, die hier im Parlament und in der Regierung entscheiden. In Straßburg und in Brüssel wird man ihm nämlich kein Gehör mehr schenken; dort gelten die Stimmen der tschechischen Europaabgeordneten und die Haltung der tschechischen Regierung - nicht die des Präsidenten, der – neben der Einsetzung einer neuen Regierung – überwiegend nur eine zeremonielle Rolle spielt.“
Auch der Kommentator der „Hospodářské noviny“, Petr Kamberský, wirft Klaus ein Fehlverhalten vor:
„Der Präsident benimmt sich wie ein Prophet und ein Richter in einer Person. Obwohl er in Brünn nur ein hinzugeladener ´Neben-Teilnehmer im Verfahren´ war, erteilt er dem Verfassungsgericht Ratschläge, wie es zu fragen hat, womit es sich zu beschäftigen hat, wie es zu denken und zu entscheiden hat,“ schreibt Petr Kamberský.
In der Sache jedoch hält er Klaus´ Einwände für berechtigt: Es genüge, wenn sich die Regierungen einigten und schon bestimme die „europäische Mehrheit“ die Höhe der tschechischen Steuern - ohne ein Ja der Parlamente, ohne ein Referendum, ohne eine Prüfung durch das Verfassungsgericht. Und so kommt Kamberský zu dem Schluss:„Der tschechische Präsident verdient bei der B-Note, dem künstlerischen Wert, eine extrem schlechte Bewertung. In der Sache jedoch nicht.“
Die „Hospodářské noviny“ bringt im übrigen eine ganze weitere Seite von Sichtweisen zum Kampf des Präsidenten gegen den Lissabon-Vertrag. In der Mitte abgedruckt ein Stich vom zerstörerischen Erdbeben in Lissabon im Jahre 1775. Heute, so die Bildunterschrift, erschüttere den ganzen alten Kontinent jener Vertrag, der gerade in dieser Stadt ausgehandelt wurde.
In unserem Medienspiegel beleuchten wir ja normalerweise nur die tschechische Medienlandschaft. Mitte der Woche hat aber buchstäblich ganz Europa ins südmährische Brünn geblickt, als das tschechische Verfassungsgericht sich zum Lissabonner Vertrag geäußert hat. Deshalb widmen wir uns heute auch der Frage, wie eigentlich die ausländischen Medien die Entscheidung der tschechischen Verfassungsrichter wahrgenommen haben. Gerald Schubert hat sich informiert und ist jetzt bei mir im Studio.
Gerald, war Brünn am Mittwoch der Nabel der Welt?
Der Nabel der Welt vielleicht nicht, aber für viele Politikjournalisten zumindest für kurze Zeit der Nabel Europas. Das Interesse war natürlich deshalb so groß, weil Tschechien und Irland die einzigen EU-Mitglieder sind, in denen bisher weder das Parlament noch das Volk den Lissabonner Vertrag ratifiziert hat. Genau darauf geht zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung in einem Kommentar ein.
„Es ist wohl kein Zufall, dass gerade zwei kleine, sehr eigenwillige Länder den großen Schritt nach vorne in der EU nur zögernd gehen oder verstolpert haben. Sie halten viel auf ihren Eigensinn und ihre Tradition, die von großen Nachbarn in der Geschichte schwer beeinträchtigt wurden. Am Ende kommt alles auf die Iren an. Und es sind die Tschechen, die ihnen im nächsten Halbjahr als EU-Ratspräsidenten helfen müssen, wieder Tritt zu fassen. Auch dafür haben sich jetzt die Aussichten verbessert.“
Und auch die tschechische EU-Ratspräsidentschaft, die ja am 1. Januar beginnt, ist ein Grund, warum man derzeit besonders genau nach Prag – oder eben nach Brünn blickt. Die österreichische Tageszeitung Kurier schreibt unter anderem:
„Mit dem Entscheid des Brünner Verfassungsgerichts, dass der Vertrag von Lissabon nicht den tschechischen Gesetzen widerspricht, kann der ohnedies schon weit gediehene Ratifizierungsprozess weitergehen. Präsident Václav Klaus steht leicht blamiert da – und Tschechien wird ab Januar, auch dank des famosen Karl Schwarzenberg, eine vernünftige EU-Präsidentschaft hinlegen.“
Kehren wir noch einmal zu Irland zurück: Vermutlich haben sich auch irische Medien für das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts interessiert.
Ganz genau. Die Irish Times zum Beispiel hat am Donnerstag einen Artikel gebracht, der mit den folgenden Worten beginnt:
„Das tschechische Verfassungsgericht hat für das Parlament des Landes den Weg frei gemacht, den Lissabonner Vertrag zu ratifizieren – ein Prozess, der Irland als letztes EU-Mitglied dastehen lassen könnte, das den Reformvertrag zurückweist.“
Und so ähnlich wie der Artikel beginnt, so endet er auch – nämlich mit einem Hinweis darauf, dass der irische Premierminister Brian Cowen, der den Vertrag ja unterstützt, kurz nach Bekanntgabe der Entscheidung gemeint hat, Irlands Position unter den europäischen Partnern sei nun noch einsamer geworden.Im Übrigen gibt es auf der Website der Zeitung sogar eine englische Übersetzung der Anti-Lissabon-Rede des tschechischen Präsidenten Václav Klaus vor dem Verfassungsgericht, und Auszüge aus dem Urteil selbst. Also auch das etwas, das man in ausländischen Medien nicht jeden Tag findet. Und auch das irische Fernsehen war da. Der Sender RTE etwa hat sich dem Geschehen in Brünn gewidmet und unter anderem erklärt, dass die Ratifizierung im Parlament mit dem Urteil des Verfassungsgerichts noch keineswegs sicher ist – also relativ ausführliche Analysen auch hier.
Vielleicht abschließend noch ein kurzer Blick nach Frankreich, das ja den EU-Ratsvorsitz derzeit innehat. Wie sieht es dort aus?
Auch französische Zeitungen haben sich dem Thema gewidmet. Le Monde zum Beispiel weist unter anderem darauf hin, dass Václav Klaus gesagt hat: Selbst wenn das tschechische Parlament den Vertrag nun ratifiziert, dann würde er ihn nur dann unterschreiben, wenn auch Irland dem Vertrag zustimmt. Das ist ein interessanter Punkt, der auch hierzulande Aufmerksamkeit erregt – nämlich dass der tschechische Präsident, der immer die nationale Souveränität verteidigt, seine Unterschrift unter einen europäischen Vertrag von einer ausländischen Entscheidung abhängig machen will.
Danke, Gerald Schubert.