Martin Becker – ein Wessi, dem der Ostwind stark um die Nase weht
Im Oktober dieses Jahres ist der Beginn von einer neuen Reihe deutsch-tschechischer Kulturprojekte unter dem Namen Zipp verkündet worden. „Zipp“ lässt dabei nicht per Zufall an den auf Deutsch Zipper (Reißverschluss) und den „tschechischen „zip“ erinnern. Gewählt wurde er gezielt, weil von Anfang an deutsche und tschechische Künstler beim Zustandekommen der insgesamt sieben Projekte sozusagen verzahnt sein sollten. Über das erste von ihnen – das tschechisch-deutsche Theaterstück „Exit 98“ - haben wir vor einer Woche in der Sendereihe „Kultursalon“ informiert. Genauer gesagt Jaroslav Rudiš und Martin Becker. Über die Zusammenarbeit des jungen tschechisch-deutschen Autorenduos und dessen gemeinsame künstlerische Reflexion der 40-jährigen Zeitspanne zwischen den historischen Wendepunkten 1968 und 1989 unterhielt sich Jitka Mládková mit Martin Becker.
„Mein Name ist Martin Becker. Ich lebe im Moment als Journalist und Schriftsteller in Leipzig, habe allerdings sehr enge Verbindungen nach Prag, da Jaroslav Rudiš einer meiner besten Freunde ist und wir schon sehr viel zusammengearbeitet haben. Tschechien steht mir ausgesprochen nahe. Manchmal würde ich fast sagen: Prag ist meine zweite Heimat – direkt nach Leipzig.
Soviel ich weiß, haben Sie gemeinsam mit Jaroslav ein Hörspiel für den WDR geschrieben.
Jaroslav Rudiš und ich haben uns vor zweieinhalb Jahren kennengelernt. Damals wollte ich im Sommer für einen Monat nach Prag, um an meinem ersten Buch zu schreiben und konnte mir das aber eigentlich nicht leisten. Es war einfach zu teuer. Dann habe ich mir gedacht, dass es eigentlich sehr wenig über die junge tschechische Literatur in Deutschland gibt und deshalb habe ich darüber eine Sendung für den WDR gemacht. So habe ich Jaroslav Rudiš kennengelernt und wir haben uns von der ersten Sekunde schon ein bisschen ineinander verliebt. Wir haben einen schönen Nachmittag verbracht, er musste mir auch gleich Geld leihen, weil ich keins mehr hatte und so fing unsere Freundschaft an. Sie wurde relativ schnell sehr intensiv und uns war ziemlich schnell klar, dass wir gemeinsnam arbeiten wollten. Damals sprach ich noch kein Tschechisch, aber Jaroslav spricht unglaublich gut deutsch und schreibt auch unglaublich gut auf Deutsch. Er hat etwas, das vielen deutschen Schriftstellern fehlt, denn er schafft es im Deutschen mit der tschechischen Melancholie zu schreiben. Die kommt in jedem Satz durch.“
Sagen Sie mir bitte etwas über Ihr gemeinsames Hörspiel „Lost in Praha“.
„Lost in Praha“ ist zum einen die Geschichte eines jungen Paares, Tomáš und Tereza, zum anderen ist es eine akustische Darstellung der Stadt, und zwar mit Klischees und Gegenklischees. Das heißt, es gibt sowohl die Moldau, es gibt die Touristenfallen, es gibt Kafkas Grab. Auf der anderen Seite gibt es auch das Prag, das man erlebt, wenn man hier Freunde hat. Wir haben also versucht unsere Erfahrungen zur Kollision zu bringen und auch unsere Literatur. Denn Jaroslav Rudiš schreibt ganz anders als Martin Becker. Es war interessant, wie wir da zusammen vor einem Computer saßen und die beiden Sprachen und Wege zur Literatur sich dann fanden. So fing das an.“
Ist veilleicht „Exit 89“ eine Art Fortsetzung von „Lost in Praha“?
„Exit 89“ ist eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit anderen Mitteln, weil es auf der einen Seite ein festgelegtes Thema war und weil es auf der anderen Seite eine ganz andere Form ist. Aber wir haben unmittelbar nachdem das Hörspiel fertig war, mit dieser Arbeit angefangen. Insofern ist es zeitlich eine Fortsetzung. Und von der Arbeit her auch. Wir haben relativ ähnlich gearbeitet, das heißt, wir haben vor einem Computer gemeinsam den Text entwickelt.“
Erzählen Sie mir bitte, wie Sie überhaupt auf die Idee von „Exit 89“ gekommen sind und über den Werdegang der „Operette“, wie das Stück offiziell heisst?
„Ich hatte hier einen kleinen Auftritt bei der ‚Lesebühne’ von Jaroslav Rudiš bei EKG. Dort war auch der Theaterchef Ondrej Hrab, der uns danach gleich gefragt hat: Wäre es nicht interessant, wenn du mit Jára zusammen zum Jahr ´68 ein Stück schreiben würdest. Das hat mich sehr interessiert, weil Jára und ich später geboren sind. Er ist 1972 geboren, ich 1982. Das Interessante ist also, wie Leute diese Zeit sehen, die sie selbst nicht erlebt haben. Wir hatten relativ schnell die Grundgeschichte. Wir wussten, dass wir keine historische, dramatische Revue machen wollten, sondern zuerst einmal einen Ort finden, der ungewöhnlich ist. Schließlich fanden wir eine Tankstelle, eine gottvergessene Tankstelle, irgendwo zwischen Prag und Brünn, mit Leuten, für die sich sonst niemand interessiert, und mit einer Geschichte, für die sich vielleicht auch niemand interessiert. Das war der Anfang. Und dann wurde es sehr kompliziert, weil sich die Arbeit daran allein schon wegen des schwierigen Formats nicht so leicht erwies.“
Ist es ein Zufall, dass der Titel der Operette – des Horrors mit menschlichem Antlitz – die Ziffer 89 trägt, also, an die Samtene Revolution 1989 erinnert? Oder ist es nur ein Zufall, dass es auf dem 89. Kilometer der Autobahn D1 zum Autounglück von Alexandr Dubcek gekommen war?„Das ist kein Zufall, weil es schon miteinander zu tun hat. Wir haben bei der Zusammenarbeit festgestellt, dass ´68 und ´89 sehr viel miteinander zu tun haben. Und obwohl das Stück kaum auf die Jahreszahlen eingeht, so erstreckt es sich über diese Zeitspanne oder eigentlich sogar über die letzten 40 Jahre. Die entscheidenden Eckpunke sind für uns ´68 und ´89, was natürlich auch gut war, weil man bei ´89 einen anderen Zugang hat, also ich zumindest. Bei ´68 konnten wir schauen, was davon übrig ist, was für uns heute bleibt. Bei ´89 gab es schon eine konkrete Erinnerung. Da konnten wir uns austauschen. Ich weiß zum Beispiel noch, dass ich sieben Jahr alt war, im Bett lag und wusste, dass ‚da Draußen’ diese Nacht etwas ganz Großes passiert.“
Wenn Sie später als Erwachsener an das Jahr 1968 zurückgedacht haben, was haben Sie sich da eigentlich vorgestellt? Haben Sie es überhaupt im Kopf gehabt und warum?
„Das ist eine interssante Frage. Ich hatte die Ereignisse eigentlich überhaupt nicht im Kopf, da es in der Schule, meinem Empfinden nach, auch nicht besonders behandelt wird. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Mein Vater war damals zwar genau im richtigen Alter, war aber nie ein 68er. Er sagt immer, er hätte lieber ‚malocht’, als da involviert zu sein. Das ist sozusagen meine Westperspektive. Das heißt, ich habe von den deutschen 68ern fast nie etwas mitbekommen. In der Schule war irgendwann nach der Nazizeit Schluss, da wurde es auch nicht mehr thematiesiert. Was das ‚Ost 68’ angeht, das kannte ich von Kundera her, aus der ‚Unerträglichen Leichtigkeit des Seins’, aus der Literatur also. Im Laufe der Zeit fiel mir ein, was für Defizite es da gibt. Ich habe also erst mit dem Projekt angefangen zu lesen, mich zu informieren, mit Jára zu sprechen, zu schauen, was ist geschehen, und so fing es eigentlich erst an. Vielleicht haben wir da in Deutschland auch einen kleinen Mangel – obwohl, seit diesem Jahr ist das auch nicht mehr so, da jetzt in jedem Fernseh- und Radioprogramm und auf jeder Bühne das Thema ’68 behandelt wird.“
Und wie denken Sie jetzt, sagen wir nach dem „Reifeprozess“, über das Jahr ´68?
„Ich glaube, man kann nur sehr schwer ausdrücken, was das für unsere Generation bedeutet, weil wir eine nachfolgende Generation sind. Ich kann nur sagen, dass ich glaube, dass man die Auswirkungen selbstverständlich bis heute spürt. Ich glaube tatsächlich, dass unser heutiges Leben, wie wir es führen können, ein Resultat dieser Zeit ist. Sowohl von ´68 als auch von ´89. Es ist miteinander verzahnt. Ich kann nur zurücksehen und sagen: ja, ich bewundere diese Menschen. Wer das erlebt hat, der kann das nachfühlen. Ich kann nur sagen: Ich kann es verstehen, aber begreifen kann ich es nicht.“
Und das Jahr 1989?
„Also in erster Linie bedeutet ´89, so komisch es auch klingen mag, bis heute, dass wir hier so sitzen können. Dass ich nicht im Zug kontrolliert werde, dass begreife selbst ich irgendwie noch. Im letzten Winter in Kanada musste ich nach der Einreise eine halbe Stunde lang erklären, warum ich denn jetzt als Journalist nach Kanada will. Wenn ich in Leipzig in den Zug steige, steige ich in Dresden um und fahre nach Prag. Da fragt mich das kein Mensch mehr. Das ist für mich eine direkte Auswirkung dieser Jahre, das kann ich begreifen!“So etwas kann meiner Meinung nach – hoffentlich werde ich Sie nicht etwa beleidigen, wenn ich das sage – viel besser ein Ossi nachempfinden. Ich bin schließlich auch eine Ossi.
„Das stimmt, und das ist wirklich seltsam. Ich wohne in Ostdeutschland und das ist auch selbst gewählt. Ich habe dort studiert, bin für eine Zeit weggezogen und jetzt bin ich in Leipzig. Wieder selbst gewählt. Ich bin so oft in Prag! Mir weht viel mehr Ostwind um die Nase als der Westwind, was meiner Herkunft nahe liegen würde. Wenn ich mich jetzt entscheiden müsste – aber zum Glück muss ich das nicht –, wenn ich mich jetzt entscheiden müsste, wo meine Affinität größer ist: Das kann ich schwer sagen.
… aber wenn Sie sich entscheiden müssten !?
„Wenn, dann bin ich im Herzen ein Tscheche, das ist ja klar!“
Was meinen Sie, wie kommt das Stück bei der älteren Generation an? Ist es überhaupt für ältere Leute bestimmt, die ´68, die so genannte Normalisierung und „Ein Kessel Buntes“ miterlebt haben?
„Es ist sehr schwierig zu beantworten, ob das Stück auch für ein älteres Publikum bestimmt ist. Ich könnte aber auch nicht sagen, ob es für ein jüngeres Publikum bestimmt ist. Mir geht es nämlich beim Schreiben immer so, dass ich nicht auf eine Gruppe hinschreiben kann. Und Jára geht es, glaube ich, ähnlich. Das heißt, wir können nur unsere Position – wie ironisch oder auch verfremdet sie sein mag – formulieren. Wir können sagen: da stehen wir, das sehen wir und so formulieren wir es. Aber ich kann es tatsächlich nicht abschätzen, wen es anspricht. Ich hoffe mal, dass uns der Kopf nicht abgerissen wird!“