Goldene 60er: Politisches Tauwetter kurbelt Popmusikgeschehen an

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Prager Frühling 1968 – unter dieser Bezeichnung ist der kurze Zeitraum zwischen Januar und August in die Geschichte eingegangen. Politische Umwälzungen standen auf der Tagesordnung, aber der Weg, der dazu führte, war viel länger. Seit Beginn der 60er Jahre war das politische Tauwetter auch in vielen Bereichen des kulturgesellschaftlichen Lebens spürbar, vor allem dann in der zweiten Hälfte der „goldenen Sechziger.“ Das Gebiet der Popmusik war dabei keine Ausnahme.

Für vieles, das noch kurz zuvor undenkbar war, gab es in den 60er Jahren plötzlich grünes Licht. Immer mehr haben sich moderne Trends aus dem Westen auch hierzulande durchgesetzt. Ein tschechisches Phänomen war, dass der Nährboden dafür in neu entstandenen kleinen Theaterhäusern existierte, den bekanntesten in Prag. Mit Fragen zu diesem Thema habe ich mich an einen Sachkundigen gewandt: Antonín Matzner, renommierter Musikpublizist, Schriftsteller und Musikproduzent, der seit 40 Jahren in der Branche zu Hause ist.

„Die damalige Bewegung der so genannten Theater der kleinen Formen war eigentlich ein natürliches Produkt der gesamten kulturgesellschaftlichen Atmosphäre jener Zeit. Ihre Aktivitäten waren am Anfang oft mit verschiedenen Poesiepräsentationen verbunden, an denen auch die späteren Songtexter wie zum Beispiel Pavel Vrba, Jan Schneider oder Eda Krečmar und andere beteiligt waren. Alle diese Leute hatten die Ambition, Dichter zu werden. Außer dem famosen Poesietheater ´Viola´ existierte noch das Poesie-Café ´Luxor´ am Wenzelsplatz, in dem abends Treffen mit Dichtern und ihrer Poesie veranstaltet wurden. Das war meiner Meinung nach das Fundament für die Entstehung der kleinen Theaterbühnen. Ihr ´Flaggschiff´ war das Prager Theater Semafor, eine wichtige Rolle spielte aber auch das Theater Rokoko und einige andere.“

Auf der Bühne dieser Theater ist Mitte der 60er Jahre eine ganze Reihe neuer Popmusikstars aufgetaucht. Die Namen einiger sind längst zum Begriff geworden: Helena Vondráčková, Marta Kubišová, Waldemar Matuška, Eva Pilarová, Václav Neckář oder die langhaarigen Bahnbrecher westlicher Gitarrenmusik wie die Matadors, Juventus, Olympic, Blue Effect und viele andere. Ein Hit folgte dem anderen, doch die Produktion wurde zunächst dadurch erschwert, dass es keine professionelen Manager gab.

„Dieses Wort durfte man überhaupt nicht benutzen. Dasselbe galt für das Wort ´Produzent´. Auch mich hat man auf Schallplattencovern jahrelang als ´künstlerischen Mitarbeiter´ bezeichnet. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre haben wir allerdings erkannt, vor allem unsere älteren Kollegen wie der Liedermacher Bohuslav Ondrácek oder der Dirigent Josef Vobruba, dass man Popmusik nicht machen kann, ohne dass die Menschen, die sie aktiv auf der Bühne produzieren, im Background ein Organisationsteam haben. Zum ersten Mal wurde offiziell die Funktion ´Produzent´im Jahr 1968 in der staatlichen Schalplattenfirma Supraphon eingerichtet.“

Mitte der 60er Jahre entstanden auch die ersten „Fernsehlieder“ - so nannte man damals die Vorgänger der heutigen Videoclips. Der Belcanto-Stil im Gesellschaftsanzug gehörte endgültig der Vergangenheit an. Die moderne Popmusik hat allerdings noch viel mehr bewirkt:

„Sie hat eine immense Auflockerung auf die Bühne gebracht. Man darf nicht vergessen: Bis Ende der 50er Jahre galt als Idol ein Sänger, der steif wie ein Stück Holz am Mikrophon stand. Das hat sich geändert, immer mehr hat man die Bühnenauftritte der Interpreten auch choreografisch vorbereitet. Zum Beispiel mit dem Trio ´Golden Kids` - das waren Marta Kubišová, Helena Vondráčková und Václav Neckář - arbeitete dann bereits ein Team professioneller Tänzer zusammen.“

Natürlich war das Manko der ungefähr 20 Jahre, in denen sich die westliche Gesellschaft vollkommen anders entwickelte als die tschechische, eine Zeitlang auch in diesem Bereich zu spüren. Nach und nach, als die Eiskruste des Regimes immer mehr Risse bekam, hat man die Verspätung nachgeholt. Das schöpferische Potential der Künstler war jedenfalls da. Unter ihnen gab es auch ein paar Spitzentalente. Für das erwähnte Golden Kids Trio zum Beispiel hat sich im turbulenten Jahr 1968 der Weg zur erfolgreichen internationalen Karriere eröffnet. Antonín Matzner erinnert sich:

„Ich war dabei, als sie sich zum ersten Mal einem internationalen Publikum vorstellten. Das war Anfang des Jahres 1968 im Programm des tschechoslowakischen Galaabends am Rande des Filmfestivals in Cannes. Ihre Präsentation schlug dort bei den anwesenden Starmanagern, Produzenten und Spitzenvertretern westlicher Gramophonfirmen wie eine Bombe ein. So etwas hat man aus dem Osten nicht erwartet. Kurz darauf hat der damalige Chef der Pariser Musikhalle Olympia; Bruno Cocatrix, dem Trio aus Prag ein einmonatiges Engagement angeboten.“

Man darf allerdings nicht außer Acht lassen, dass es in der Tschechoslowakei der 60er Jahre die Zensur des geschriebenen, gesprochenen, aber auch des gesungenen Wortes gab. Trotzdem gelang es geschickten Liedermachern, in ihren Songtext einiges durchzuschmuggeln:

„Ganz bestimmt und das ist wirklich bewundernswert. Ich selbst hatte mit dem Kontrollsystem auch meine Erfahrungen gemacht. Auch ich musste meine Produktionen einer Zensurkommission vorlegen. Trotzdem wundert es mich, dass manches doch gelassen wurde. Ich weiß nur nicht, ob das Auge des Zensors nicht so scharf war, oder ob er bestimmte Sachen ´zwischen den Zeilen´ nicht verstanden hat. Das war aber nicht nur in der Popmusik so, sondern in allen Bereichen, und die Tschechen haben das Lesen zwischen den Zeilen gut gelernt.“

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Panzer der Warschauer-Pakt-Staaten blieb auch die Musikbranche von den allgegenwärtigen Säuberungen nicht verschont. Das ist aber ein anderes Kapitel der tschechischen Popmusikgeschichte, in dem die so genannte Normalisierung das Sagen hatte.