„Gebet für Marta“ – Symbol des Prager Frühlings
Ein „freudiger Reigen“ um Mitternacht auf dem Oberdeck der „Titanic“ – so hat jemand einmal das Geschehen der Augusttage von 1968 in der Tschechoslowakei bezeichnet, und es scheint kein schlechter Vergleich zu sein. Hunderttausende Tschechen sind im Urlaub, viele im kapitalistischen Ausland, und die Illustrierten bringen neueste Informationen aus dem Leben von Stars der sozialistischen Musikszene. Unter ihnen ein Star der Extraklasse - Marta Kubišová.
1966 gewann Marta Kubišová den traditionellen Songwettbewerb „Goldene Nachtigall“ und trug die gleichnamige Trophäe davon. 1968 zählte sie gemeinsam mit Helena Vondráčková und Václav Neckář zu den beliebtesten Stimmen hierzulande. Alle drei traten damals im Prager Theater „Rokoko“ auf.
Für ein Musikprogramm des Tschechoslowakischen Fernsehens mit russischen Evergreens hat Marta Kubišová im Februar 1968 ein bekanntes russisches Volkslied gesungen. Keineswegs zwangsweise. Ihr lag es damals sehr am Herzen:
„Ich war früher echt russophil orientiert. Im Jahr 1965 ist das Rokoko-Theater im Rahmen der - wie es offiziell hieß - Festigung der Freundschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion in das damalige Leningrad, heute Petersburg, und nach Moskau gereist. Mit dem Ensemble des berühmten Sovremennik-Theaters in Moskau haben wir uns sehr gut angefreundet. Es war wirklich toll. Schon früher habe ich auch gerne Autoren wie Turgenjew, Tschechow, kurzum, die russischen Klassiker gelesen, die mir sehr gut gefielen.“
Für Marta Kubišová hat sich aber mit dem 21. August 1968 vieles verändert:
„Dann kam der schreckliche Schlag und in mir hat sich alles total umgedreht. Nicht dass ich vielleicht wütend war, ich wusste natürlich, dass zum Beispiel die Schauspieler im „Sovremennik“ keine Schuld daran hatten. Schließlich hatten sie dieselben Ansichten wie wir! Von dem Moment des Überfalls an war ich mir jedoch dessen bewusst, dass da ein großes Malheur passierte und dass ich persönlich damit nicht fertig werden kann. Alles war einfach verpatzt.“
Die Ereignisse vom August 1968, als die Sowjetarmee mit Panzern die Tschechoslowakei besetzte, haben auch in einigen Songs ihren Ausdruck gefunden. Eines davon, nämlich „Das Gebet für Marta“, gesungen von Marta Kubišová, ist zum musikalischen Symbol des Prager Frühlings geworden. Die erste Version des „Gebets“ entstand bereits Anfang des Sommers ´68, doch erst die zweite Version ist sehr ruhmreich geworden. Eingespielt wurde sie am 23. August unter recht dramatischen Umständen.
Mit dem neu geschriebenen Song eilte der Komponist Jiří Brabec in das bekannte Aufnahmestudio Na Petynce, wo Marta Kubišová auf ihn wartete. Doch unterwegs haben ihm Sowjetsoldaten die Autoreifen durchschossen und ihm blieb nichts anderes übrig, als schnell in eine Telefonzelle zu gehen und den Text des Songs ins Telefon zu diktieren. Den handgeschriebenen Text sang die Sängerin also vom Blatt ab, in Begleitung von Angelo Michajlov, Klavier, und Karel Černoch, Schlagzeug.
Später konnte sie den Song in Begleitung eines Orchesters aufnehmen und auf der LP „Songy a balady“ herausgeben, die für lange Jahre ihre letzte war. Das Lied wurde 1969 von dem neuen moskautreuen Regime als „ein aktives Instrument der Konterrevolution“ verurteilt und natürlich verboten. Von der erwähnten LP konnten bis zu ihrem Verbot 80 000 Stück verkauft werden.