1968 und die Frauenfrage: ein tschechisch-deutscher Vergleich

Das Jahr 1968 hat in Westeuropa unter anderem entscheidende Impulse für die Frauenbewegung geliefert und die bisherige Rollenverteilung grundlegend in Frage gestellt. In der Erinnerung der Tschechen ist das Jahr 1968 in erster Linie mit dem „Prager Frühling“ und seiner brutalen Niederschlagung verbunden. Aber: Auch in der Tschechoslowakei kam es – vor völlig anderem Hintergrund - in den 1960er Jahren zu intensiven Diskussionen über die Rolle der Frau. 1968 und die Frauenfrage – das war auch einer der Themenschwerpunkte bei der Sommerakademie der Prager Heinrich-Böll-Stiftung, des Goethe-Instituts und weiterer Partner zu 1968 auf Schloss Liblice.

„Wir hatten alle ein ideales Bild von der Frau im Sozialismus, das ja. Aber wir wussten zugleich auch von der Überbelastung der Frauen im Sozialismus – Beruf, Kinder und Haushalt und Anstehen vor allem in den Läden“, so die Berliner Publizistin Sibylle Plogstedt, die 1968 als Studentin nach Prag kam, um für eine Seminararbeit zu recherchieren.

Wie viele junge Menschen in Westeuropa idealisierte Plogstedt damals den Sozialismus als gesellschaftliches System. Hier war bereits Realität, was sich die westdeutsche Frauenbewegung in einem mühsamen Prozess erst erkämpfen musste: die Berufstätigkeit von Frauen. Grundverschiedene Voraussetzungen also für die Diskussion der Frauenfrage in beiden Ländern. Die Publizistin Alena Wagnerová hat diese Unterschiede am eigenen Leib erfahren. Sie emigrierte 1969 aus Prag nach Westdeutschland – und fühlte sich dort als Frau zunächst überhaupt nicht wohl:

„Ich hatte das Gefühl, Deutschland war – was Frauenemanzipation angeht - gut 20 Jahre hinter der Tschechoslowakei zurück. In Prag habe ich mich als Frau wesentlich freier gefühlt. Mein Mann ist Buchhändler und in Deutschland wurde ich immer gefragt: Was macht die Buchhandlung? Es gab hier die starke Tendenz, Frauen über den Status ihres Mannes zu definieren.“

In der Tschechoslowakei waren die Frauen zwar durchweg berufstätig. Allerdings war diese Berufstätigkeit Teil der politischen Ideologie. Sie galt als Bedingung für das Gelingen der sozialistischen Revolution. Mit Befreiung hatte das für die Frauen im Sozialismus nichts zu tun. Im Gegenteil – es bedeutete de facto eine enorme Doppelbelastung. Alena Wagnerová:

„Nach ihrem Beruf erwartete die Frauen noch drei bis vier Stunden Haushalt und Kinder, also quasi noch eine zweite Schicht. Und wie man diese Doppelbelastung senken könnte – darüber begann man Anfang der 1960er Jahre in der Tschechoslowakei sehr intensiv zu diskutieren. Die Doppelrolle war das Schlüsselthema.“

Die neue Debatte, die einige Jahre vor der 68er-Frauenbewegung im Westen begann, kam nicht von ungefähr.

„Um das Jahr 1965 begann man in der ČSSR über eine neue Wirtschaftspolitik zu diskutieren. Und in diesem Zusammenhang wurde erstmals auch die Effektivität von Frauenarbeit in Frage gestellt. Frauenarbeit sei sehr kostenaufwändig, die Kosten für Kinderkrippen und anderes würden den Nutzen überschreiten. Die Frauen protestierten reihenweise gegen dieses neue Denken“, so Alena Wagnerová.

Jiřina Šiklová
Das hatte ein jähes Ende, als im August 1968 Warschauer-Pakt-Truppen den „Prager Frühling“ brutal niederschlugen und die Reformer um den großen Hoffnungsträger Alexander Dubček kapitulierten. Völlig desillusioniert begann sich nahezu die gesamte Gesellschaft ins Privatleben zurückzuziehen. Die Frauenfrage war kein öffentliches Anliegen mehr. Was sich in Folge der 68er-Revolte in Westeuropa tat, erfuhr man in der Tschechoslowakei erst nach 1989. Denn obwohl es in anderen Bereichen intensive Kontakte zwischen Intellektuellen beider Länder gab, galt dies nicht für die Frauenbewegung. Sibylle Plogstedt und ihre Zeitschrift „Courage“, die auch über das Leben von Frauen im Ostblock informierte, blieb eine rühmliche Ausnahme. Die Soziologin und damalige Dissidentin Jiřina Šiklová, die nach 1989 in Prag die Organisation „Gender studies“ gründete, überlegt warum:

„Die Frauenbewegung im Westen hat sich gar nicht dafür interessiert, was hinter dem Eisernen Vorhang passierte. Ich vermute, der Grund dafür war, dass wir in ihren Augen den Sozialismus zu stark kritisiert haben. Die Frauenbewegung im Westen war ja links.“

In Wirklichkeit waren die Gründe für das Desinteresse der westdeutschen Frauenbewegung am Osten viel banaler, erinnert sich Marianne Zepp aus dem Berliner Büro der Heinrich-Böll-Stiftung:

„Man hat sich gar nicht auseinander gesetzt mit der Situation von Frauen im Sozialismus. Die westdeutsche Frauenbewegung war vielmehr eine Bewegung, die in erster Linie nach Westen schaute, nämlich nach Frankreich und in die USA und da ihre Vorbilder und Anregungen hernahm.“

Erst nach der politischen Wende von 1989 wurde die Frauenfrage in der Tschechoslowakei langsam wieder zum Thema. Priorität hatte sie für die hier lebenden Frauen damals aber nicht gleich, erinnert sich Alena Wagnerová:

„Als ich im Januar 1990 in die Tschechoslowakei kam, merkte ich: Die Frauen waren in den neuen politischen Strukturen nicht vertreten, obwohl viele von ihnen sich zuvor als Dissidenten politisch engagiert hatten. Ich bin damals von einer zur anderen gegangen und habe gefragt, warum. Und alle haben gesagt: zuerst die Demokratie, dann die Frauenfrage. Genau derselbe Fehler, den die Frauen im Westen damals auch gemacht hatten: erst der Sozialismus, dann die Frauenfrage.“

1989
Vergleicht man das heutige Selbstverständnis tschechischer und deutscher Frauen, fällt auf, dass in Tschechien besonders im privaten Bereich vielfach die klassische Rollenverteilung vorherrscht. Küche und Kinder sind hierzulande (noch) weitgehend unumstritten Frauensache. Ein Widerspruch zu der frühen beruflichen Emanzipation der Frauen in der Tschechoslowakei? Nur ein scheinbarer, denn eine wichtige Erklärung für das unterschiedliche Selbstverständnis ist sicherlich in den unterschiedlichen Voraussetzungen zu suchen, unter denen sich die Frauenemanzipation in beiden Ländern abspielte. Alena Wagnerová hat sie selbst erlebt:

„In Westdeutschland mussten sich die Frauen jeden weiteren Schritt in Richtung Emanzipation praktisch von unten selbst erkämpfen. In der kommunistischen Tschechoslowakei hingegen war die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen Bestandteil des politischen Programms, der Staat selbst ebnete hier den Weg. Dadurch entstand bei den Frauen auch das Gefühl, dass die Emanzipation Selbstverständlichkeit ist und sich schon von alleine einstellt. Deshalb fehlt den tschechischen Frauen bis heute ein Bewusstsein dafür, dass man an seiner Situation selbst etwas ändern muss.“

Doch mittlerweile entwickelt sich dieses Bewusstsein spürbar. Zwar ist „Feminismus“ für viele Tschechen immer noch ein negativ besetzter Begriff. Aber Veränderung ist in Sicht. Die Zeitschrift „Respekt“ machte kürzlich sogar schon eine „neue Feminismus-Welle“ in Tschechien aus.