Das magische Prag - Angelo Maria Ripellino
Das unheimliche Prag - die schaurige, heimtückische Stadt, bevölkert von Schatten und Lemuren, ein gespenstisches Kabinett von Sonderlingen, Alchimisten und Scharlatanen, eingezwängt in lichtlose Gassen,: Niemand hat die dunkle Seite des Prager Kosmos eindrücklicher beschrieben als ausgerechnet der Italiener Angelo Maria Ripellino in seinem 1972 erschienenen, überquellenden Essay „Magisches Prag“. Im folgenden Kultursalon stellt Thomas Kirschner Ihnen den vor 30 Jahren verstorbenen sizilianischen Bohemisten und sein wohl berühmtestes Buch vor.
„Auch heute noch, allnächtlich um fünf, kehrt Franz Kafka, ganz in Schwarz, einen steifen Hut auf dem Kopf, in seine Wohnung in der Zeltnergasse zurück. Auch heute noch verkündet Jaroslav Hašek allnächtlich in irgendeiner Kaschemme, dass jeglicher Radikalismus von Übel und gesunder Fortschritt nur auf dem Wege des Gehorsams zu erreichen sei. Auch heute noch stürmt das Feuer, wie Arcimboldo es gemalt hat, mit flackernder Haarlohe von der Prager Burg herab und das Getto mit seinen baufälligen Hütten geht in Flammen auf, und Königsmarcks Schweden ziehen ihre Kanonen durch die Straßen der Kleinseite und Stalin blinzelt unheilverkündend von seinem Kolossaldenkmal herab.“
So beginnt Angelo Maria Ripellino sein literarisches Pandämonium der böhmischen Hauptstadt „Magisches Prag“ - streckenweise ein Essay, streckenweise eine literaturwissenschaftliche Arbeit, streckenweise eine Beschwörung, ein wortgewaltiges Monstrositätenkabinett der Prager Nachtseite. Der Übersetzer und Essayist Valdimir Mikeš gehörte zu den Freunden und Wegbegleitern Ripellinos:
„Ich glaube bei Ripellino ist es eine merkwürdige Dynamik. Das ist nicht nur Fleiß und Arbeitseifer, sondern auch die Art und Weise, wie er die Arbeit angegangen ist, wie er in ihr aufgegangen ist. Das war so eine innere Aufnahme, etwas Absolutes, wie man es nur bei wenigen Leuten findet. Es gibt zum Besipiel ausgezeichnete Übersetzer, die ihren Beruf nur als Handwerk betreiben, aber Ripellino ist in seine Arbeit wirklich völlig eingetaucht – und von solchen Leuten gibt es nicht viele.“
Angelo Maria Ripellino wird 1923 im sizilianischen Palermo geboren. Er studiert Slawistik, als außergewöhnlich begabter junger Dozent liegen seine Interessen zunächst auf der russischen Literatur. Schicksalhaft wird dann aber ein Lehraufenthalt am italienischen Institut in Prag. Hier richtet der charismatische, sprühende Mittzwanziger nicht nur intellektuelle Verwirrung an, erinnert sich Ripellinos spätere Kollegin Alena Wildová-Tossi:
„Die Studenten waren völlig schockiert und verzaubert. Überhaupt war er anziehend, schon von seiner Gestalt. Er war schlank, nicht allzu groß, aber ausreichend, volles dunkles Haar und ein hübscher italienischer Schnurrbart, der damals schon nicht mehr ganz üblich war. Auf die Philosophische Fakultät gingen damals überwiegend Mädchen, und so hat er also auch durch sein Äußeres angezogen. Und natürlich hat er angezogen durch sein enormes Wissen und seine Bildung. Das waren nicht nur russische und tschechische Literatur, sondern auch die Beziehungen zur deutschen, zur französischen Kultur, die Beziehungen untereinander. Die Studenten waren davon zu Anfang ganz aus der Bahn geworfen.“
Ganz besonders eine junge Studentin: Ela. Als Ripellino zurück nach Italien geht, reist sie ihm nach. Im Herbst 1947 heiratet das Paar in Rom. Es bleibt die enge Verbindung nach Prag, die Liebe zur tschechischen Moderne. Zusammen übersetzten sie die großen tschechischen Autoren der Gegenwart: Halas, Seifert, Fuchs und natürlich den geliebten Holan. Nach dem kommunistischen Umsturz von 1948 erscheinen in Italien die Texte, die in Prag verboten sind. Der sizilianische Gelehrte, der Exot unter den Bohemisten mischt sich ein in das tschechoslowakische Kulturleben – und nutzt die zunehmende Offenheit der sechziger Jahre, um unbequeme Fragen zu stellen. So etwa in einem Zeitschrifteninterview mit Antonín Jelinek, in dem Ripellino flugs die Rollen umdreht:
„Und jetzt möchte ich eine Frage stellen, Herr Jelinek: Wie kommt es, dass sich die Kritik in ihrem Land so wenig damit beschäftigt, die vergessenen Werte der tschechischen Kultur wiederzuentdecken? Wie viele Epochen warten noch auf eine Neubewertung! Der Barock, der ganz neu erforscht werden muss und der bis in die moderne Poesie hineinragt, bis Halas und Holan. Das Biedermeier, dessen Echo noch in diesem Jahrhundert lebendig ist, in der Lyrik Seiferts. Und so weiter – ein riesiges Arbeitsfeld wartet auf Bohemisten in der ganzen Welt. Viele Autoren müssen in einem europäischen Licht neu bewertet werden. Der Nachruhm des Prager linguistischen Zirkels zeugt davon, dass Europa an der tschechischen Kultur Interesse hat.“Dann aber kommt das Schicksalsjahr – 1968. Die Warschauer-Pakt-Truppen walzen den Prager Frühling nieder und mit ihm die Hoffnungen auf eine offenere, menschlichere Gesellschaft, auf eine freie Kunst und Literatur. Prag wird, nicht nur für Ripellino, zur Geisterstadt, zur Stadt des sowjetischen Golem, zu einer leblosen, mutlosen, irreal-bleiernen Stadt. Vielleicht ist es die Trauer über den Verlust des wirklichen Prag, die Ripellino zu dem irrealen, nebeligen, magischen Prag führt.
„Prag - ein alter Foliant mit Blättern aus Stein, ein Stadt-Buch, in dem es noch viel zu lesen, zu träumen, zu verstehen gibt, Dreivölkerstadt (bewohnt von Tschechen, Deutschen und Juden) und, nach Breton, magische Hauptstadt Europas - dieses Prag ist vor allen Dingen eine Brutstätte des Gespensterwesens, ein Tummelplatz der Hexenmeister, eine Heimat von Zauberei, kouzelnictví (auf tschechisch), kischef (auf jiddisch). Eine Falle, die, wen immer sie mit ihrem Honiggift gebannt hat, erbarmungslos festhält. Wer ein ungetrübtes Glück sucht, meide diese Stadt.“
Eine vergebliche Mahnung, die erst Recht verlockt – unter anderem jährlich zehntausende Touristen aus Italien, wo Ripellinos „Praga magica“ das mythenglänzende Bild der Stadt geprägt hat. Tschechen können mit Ripellinos Prager Melancholie dagegen oft weniger anfangen. So auch seine Kollegin Alena Wildová-Tossi:
„Das war seine Auffassung, des magischen, verzagten Prag, das sich irgendwo im Nebel verliert. Ich habe damals zu ihm gesagt: Ich sehe Prag aber ganz anders. Ich habe in der Stadt meine Kindheit verbracht, zugegebenermaßen in einer Zeit, die verzagt hätte sein müssen. Aber ich habe das nie so empfunden. Und ich habe nie das jüdische Prag gesehen, auch wenn ich mit jüdischen Kameraden in die Schule gegangen bin und nach dem Krieg wieder jüdische Freundinnen hatte. Und das deutsche Prag habe ich auch nie gesehen. Das deutsche Prag, das war das Prag im Krieg, die Jagd der Deutschen auf die Heydrich-Attentäter, als die Gestapo gekommen ist und uns Mädchen gefragt hat, ob wie nicht jemanden gesehen haben. Und auf den Bekanntmachungen konnte man sehen, dass auch 14-Jährige erschossen worden sind. Das deutsche Prag, das war für mich nie das Prag Kafkas, das Prag der deutschen Kultur, sondern das Prag der deutschen Gewalt.“
Es ist der Schmerz der Liebe, der Liebe zu Prag, der aus dem Buch spricht, betont dagegen Valdimir Mikeš:„Sicher gibt es da Dinge über die man streiten kann, aber wo überhaupt kann man schon mit jemandem hundertprozentig übereinstimmen? Ich erinnere mich, dass während der Vorbereitung zu dem Buch Ripellino mit seinem Sohn hier war – seine Fotos sind in dem Buch – und Ripellino hat ich wirklich mit Leidenschaft durch die Stadt gejagt, was er noch alles fotografieren muss. Das ist der Hintergrund, vor dem man das alles sehen muss. Ripellino mochte Kafka, aber es war nie so, dass für ihn Kafka Prag und Prag Kafka war. Kafka war nur ein Bestandteil der Stadt. Und das war er in dem Buch über die tschechische Literatur geschrieben hat, das ist wirklich ein Liebesbekenntnis – das lässt sich nicht einfach so auf Bestellung schreiben. Und ganz nebenbei: welche Stadt gibt es schon, die sich mit solch einem Buch rühmen kann?“
Angelo Maria Ripellino stirbt am 21. April 1978, vor nunmehr fast genau drei Jahrzehnten, im Alter von nur 54 Jahren. Sein Buch „Magisches Prag“ wird auf Englisch und Italienisch weiterhin aufgelegt; auf Deutsch ist es nur noch antiquarisch erhältlich.