Die vergessene Stadt: das unterirdische Brünn (I)

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Die Kapitel aus der tschechischen Geschichte beginnen diesmal an ungewöhnlicher Stelle - in der deutschen Literatur nämlich, genauer gesagt in Botho Strauß´ Erzählung „Die Widmung“. Aus der schmerzhaften Geschichte einer Trennung ragt ein Absatz unverbunden wie ein Splitter hervor – und dieser Splitter führt tief in und unter die Geschichte der mährischen Metropole Brünn. Thomas Kirschner hat sich auf eine Entdeckungsreise gemacht:

„In Prag ist vor kurzem etwas Fürchterliches passiert. Ein älteres Ehepaar stieg am Sonntag aus einer Straßenbahn und versank auf der Stelle im Erdboden. Infolge eines Wasserrohrbruchs war unter dem Straßenbelag eine Aushöhlung entstanden, in welche die beiden hinunterrutschten. Dem Mann gelang es, sich solange festzuklammern, bis man ihn retten konnte. Seine Frau jedoch wurde von den flutenden Abwässern fortgerissen und ertrank. Wohl dem, der blind für Symbole ist… dem die Haut über den zweiten Augen niemals aufriss.“

So heißt es in Botho Strauß´ Erzählung „Die Widmung“ aus dem Jahr 1976. Es ist die nur wenig verfremdete Beschreibung eines erschütternden Unglücks, das sich am 15. Februar des gleichen Jahres ereignet hatte - nicht in Prag allerdings, sondern im mährischen Brünn.

Ums Leben kam dabei die 45-Jährige Blumenverkäuferin Marie Bartošová. An sie erinnert heute eine Gedenktafel auf der belebten Pekařská, der Bäckergasse in Alt-Brünn. Marie Bartošová hatte zunächst noch geholfen, einen Mann aus dem klaffenden Loch in der Straße zu ziehen, als plötzlich der Boden weiter nachgab.

„Ihr ist dann niemand mehr zu Hilfe gekommen, und als schwache Frau hat sie sich auch nicht lange halten können. So ist sie in dem aufgewühlten Schlamm in der Grube versunken und fortgerissen worden. Und diese Tragödie hat den Magistrat dazu gebracht, mit der systematischen Erforschung des unterirdischen Brünn zu beginnen.“

Die Haut über den zweiten Augen, sie war zerrissen. Schon seit Jahren hatte es in Brünn immer wieder rätselhafte Probleme gegeben: brechende Rohrleitungen, Fahrbahnabsenkungen, Risse an den Häusern. Das zweite, das vergessene unterirdische Brünn sandte Botschaften an die Oberfläche, erinnert sich Aleš Svoboda. Er ist inzwischen bereits seit fast einem Vierteljahrhundert bei Untersuchung des Brünner Untergrundes mit dabei:

„In den siebziger Jahren hat man darüber praktisch nichts gewusst - vielleicht mit Ausnahme von ein paar eingeweihten Fachleuten, die geahnt haben, dass es da historische Räume im Brünner Untergrund geben muss. 1976 begannen die systematischen Untersuchungen, und es wurden so viele Funde gemacht, dass ein ganzes Team nur mit diesen Untersuchungen beschäftigt war. Bis heute ist wirklich eine unglaubliche Menge an vergessenen und verschollenen Kellern und unterirdischen Räumen entdeckt worden.“

Von der Pekařská, der Bäckergasse führt mich Aleš Svoboda quer über die Ringstraße am Stadthof vorbei in die Innenstadt – mitten durch die ältesten Teile Brünns, das schon im späten Mittelalter eine dicht besiedelte Metropole des Weinhandels war. Schon damals wurden in großem Umfang Keller angelegt, erzählt Svoboda:

„Im 13. Jahrhundert stand hier schon ein Haus neben dem anderen, oft mit einem oder zwei Kellergeschossen darunter. Aber der Platz innerhalb der Stadtmauern war knapp, die Einwohner und das Gewerbe haben zugenommen und es mussten neue Räume gefunden werden. Also haben die Menschen trotz offiziellen Verbotes ihre Keller auch unter öffentlichen Flächen angelegt. Das Verbot bestand vor allem deshalb, weil die Straßen damals noch nicht gepflastert waren und immer die Gefahr bestand, dass die aufgeweichten Straßen in die Keller einbrechen.“

Trotzdem wurde gegraben und gebaut. Und das teils gleich in ganzen Labyrinthen, Stück um Stück, immer wieder erweitert. Vor allem als Lager und Kühlkeller wurden die unterirdischen Räume genutzt, Wein und Bier sind hier gereift. In vielen historischen Souterrains unter den Brünner Häusern sind heute Restaurants und Geschäfte untergebracht. Die Keller unter den Gassen und Plätzen wurden dagegen lange verschwiegen, später aufgegeben und vergessen.

„Die Keller sind schwarz gebaut worden – ohne Genehmigung, ohne Dokumente, also auch ohne Spuren in den Archiven zu hinterlassen. Und so etwa vor hundert, hundertfünfzig, zweihundert Jahren hat man dann allmählich aufgehört, die Keller zu benutzen – Wein und Bier wurden allmählich anders hergestellt und gelagert, die Keller verloren ihre Bedeutung. Nach und nach wurden sie zugeschüttet oder eben einfach vergessen.“

Das unterirdische Brünn bietet aber noch andere Geheimnisse als Kaufmannskeller – und dabei muss man nicht einmal die Legenden zu Hilfe nehmen, die von geheimnisvollen Gängen, verirrten Schatzsuchern und unterirdischen Seen berichten. Das Team um Aleš Svoboda hat mit vergessenen Wehrmachtsbunkern und Weltkriegsstollen zu tun, mit Brunnen, Kanalschächten, Felsenkellern und den barocken Kasematten des Spielbergs, dessen Geheimnisse trotz dreißigjähriger Forschung in der Brünner Unterwelt immer noch auf eine nähere Untersuchung warten.

Die Arbeit an dem zweiten, dem unterirdischen Brünn hat in grundlegender Weise seinen Blick auf die Stadt verändert, erzählt Aleš Svoboda:

„Ich habe mich nicht nur um die Statik und die technische Seite gekümmert, sondern auch nach der Geschichte der Keller geforscht. Und so bin ich wirklich an der Stadt gewachsen. Die historischen Wurzeln sind hier unglaublich stark. Ich habe inzwischen so eine Vorstellungskraft, dass ich einen Spaziergang durch das Brünn vor 300 oder 500 Jahren machen kann – ich weiß, wie die Gassen ausgesehen haben, wie eng sie waren, wie sich Straßen und Plätze verändert haben. Ich gehe durch die Geschichte, und dadurch bin ich mit der Stadt ganz eng verbunden. Und das war nicht immer so.“

Das unterirdische Brünn – lange vergessen und doch gegenwärtig, ein unheimlicher schwarzer See, das Unterbewusstsein der Stadt. Es ist nicht allzu weit von hier bis ins mährische Freiberg, wo 1856 Sigmund Freud geboren wurde. Vielleicht, so fällt mir ein, führt ja ein unterirdischer Gang dorthin. Mit der Wiederentdeckung der Gänge und Keller im Brünner Untergrund vereint sich nun aber die sichtbare und unsichtbare Geschichte der Stadt.

„Ich glaube, das gehört untrennbar zusammen. Es ist eigenartig, dass wir nur das, was wir sehen, für wirklich halten, und so tun, als würde das, was wir nicht sehen, auch nicht existieren. Mein Blick hat sich inzwischen erweitert, und ich stelle mir auch bei anderen Städten immer schon die unterirdische Welt vor. Das lässt sich auch auf die menschliche Psyche übertragen: Man muss immer auch mit dem rechnen, was man nicht sieht.“

Erst vor wenigen Jahren ist dem Team um Aleš Svoboda ein ganz besonderer Fund gelungen – eine unterirdisches Gebeinhaus gleich neben der Brünner Jakobskirche, wohl aus dem frühen 19. Jahrhundert. In dem Gewölbe, das bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll, ruhen die Überreste von tausenden Brünner Bürgern aus den aufgelassenen Friedhöfen der Stadt; Knochen an Knochen.

Eine Leiche aber hat auch Aleš Svoboda nicht gefunden – die von Marie Bartošová, mit deren Tod die Erforschung des Brünner Untergrundes 1976 begonnen hat. Lange Zeit fehlte jede Spur von ihr. Erst 16 Jahre nach dem Unglück wurden bei Ausschachtarbeiten kilometerweit von der Unglücksstelle entfernt Skeletteile gefunden, die aufgrund von Stoffresten und Indizien Marie Bartošová zugeordnet wurden. Offiziell ist der Fall damit gelöst. Nicht so aber für Aleš Svoboda. Er ist sich sicher, dass die sterblichen Überreste von Marie Bartošová immer noch irgendwo unter der Bäckergasse liegen – in einer Aushöhlung, die der Brünner Untergrund noch nicht preisgegeben hat.

Foto:brno.agartha.cz