Blumen statt Autos: Erstes Projekt zum taktischen Urbanismus in Brünn
Nach Barcelona, New York und Tirana nun auch Brno / Brünn: Der taktische Urbanismus ist in Tschechien angekommen. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Und wie sieht seine Umsetzung in der südmährischen Stadt aus?
In Brünn ist gerade eine sogenannte Intervention im Gange. Die Vachova-Straße mitten in der Innenstadt, wo sich unter anderem die beliebte Cocktailbar „4pokoje“ (Vier Zimmer) befindet, ist für Autofahrer derzeit gesperrt. Stattdessen dient die Sackgasse den ganzen Sommer über als eine Art öffentliches Wohnzimmer. Tische und Stühle stehen frei zur Verfügung, ebenso wie die Kinderecke, und zwischendrin verschönern Blumenkästen den Anblick.
Das mehrmonatige Projekt ist die erste Umsetzung des sogenannten taktischen Urbanismus in Tschechien. Es handle sich um eine Methode, wie der öffentliche Raum kostengünstig und schnell verändert und dort etwas Neues ausprobiert werden könne, erläutert Veronika Rút. Die Designerin und Projektautorin hat die Vachova-Straße für ihre Organisation Naše kultivovaná města (Unsere kultivierten Städte) umgestaltet und berichtete darüber in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:
„Beim taktischen Urbanismus ist vor allem wichtig, eine Veränderung vor Ort durchzuführen, die Menschen dort ihre Erfahrungen machen zu lassen und sie danach zu fragen, was sie darüber denken. Wir erheben, welchen Wert etwa zuvor die sechs Parkplätze für sie hatten und im Vergleich dazu das, was sie jetzt dort erleben. Dies sind nicht das übliche Theorisieren und die abstrakten Umfragen, was wohl wäre, wenn die sechs Parkplätze beseitigt werden würden. Hier läuft es andersherum. Die Menschen erleben die Veränderung und beurteilen das Erlebnis.“
Für das Projekt, das Anfang Mai gestartet wurde, konnte die Unterstützung aus dem Rathaus Brünn-Mitte gewonnen werden. Und auch die in der Straße ansässigen Unternehmer machen mit. Sie haben laut Rút die Ausstattung angeschafft oder organisieren kulturelle Veranstaltungen:
„Am schwierigsten und auch eine Neuheit war die Kooperation mit den Gewerbetreibenden in der Straße. Dies ist nämlich eher untypisch für den taktischen Urbanismus. Ich dachte mir aber, die Mediatoren und damit eben jene, die sich direkt um die Straße kümmern könnten, sind die Unternehmer. Dann war es auch nötig, eine passende Straße zu finden. Die Vachova ist ideal und noch dazu eine Sackgasse, darum musste die Verkehrsführung gar nicht so grundlegend geändert werden. Die ansässigen Händler verstehen sich untereinander gut und kooperieren bis heute. Für mich ist es ein kleines Wunder, dass sich Menschen, die zufällig aufeinander treffen, wirklich einigen können, etwas gemeinsam finanzieren und am Leben erhalten. Das war wichtig für das Projekt.“
Denn um aus einer Straße ein Wohnzimmer zu machen, müssen Sitzmöglichkeiten gekauft und Blumen angepflanzt werden. Dafür gebe es bei Bedarf auch öffentliche Fördergelder von der Stadt, wirft die Projektleiterin ein. Und die Beteiligten könnten dabei ihre Gärtnertalente ausleben. All das müsse über die Monate hinweg in Eigenregie auch sauber gehalten werden…
„Das Ergebnis kann ein großes Plus für alle sein, und die Menschen verhalten sich gegenüber dem öffentlichen Raum dann auch ganz anders. Wenn sich jemand um ihn kümmert, hält das andere Menschen davon ab zu vandalieren, etwas zu stehlen oder zu beschädigen. Wenn die Anwohner ihr Projekt direkt erklären, bändigen sie mögliche Täter wesentlich besser, als Polizei und Politiker zusammen es tun. Es ist dann einfach ein No-Go, dort einen Gartenzwerg zu klauen. Das heißt, die Bewohner und die lokalen Unternehmer können auf ihren Raum viel besser aufpassen.“
Die Stadt gehöre schließlich den Menschen, die in ihr leben, ergänzt Rút. Und idealerweise kümmerten diese sich eben auch um sie.
Straße als öffentliches "Wohnzimmer"
Taktischer Urbanismus ist in Städten wie New York, Barcelona oder dem albanischen Tirana schon länger bekannt. Das typischste Merkmal sind Farben, klassischerweise umgesetzt in Street-Art-Werken. Auch dies sei eine schnelle und kostengünstige Art, einer Straße ein neues Aussehen zu verleihen, sagt Veronika Rút. Dann würden noch Sitzgelegenheiten hinzugefügt und abgewartet, was diese Veränderung mit dem Ort mache:
„Das Projekt muss stabil und durchgehend angelegt sein und nicht nur auf eine bestimmte Tageszeit. Dadurch gewöhnen sich die Leute daran, dass Straßen im normalen Tagesablauf für etwas anderes genutzt werden als nur zum Autoparken. In der Vachova-Straße wurde uns die Street-Art von den Politikern untersagt, also haben wir davon abgesehen. Meistens ist sie es aber, die die Aufmerksamkeit der Menschen anzieht und die weitere Diskussion in Gang setzt. Immer handelt es sich um Experimente bezüglich eines anderen Umgangs mit Verkehr, mit Konzepten von Entschleunigung und einer Koexistenz von Lieferanten, Kurieren, Fußgängern und Radfahrern. Alle haben ihren Platz in diesem Raum.“
Sie sei nicht unbedingt ein Fan von streng vorgegebenen Fahrradwegen, fährt die Designerin fort. Bei zu vielen Verkehrszeichen könne sich den Menschen leicht der Kopf drehen. Vielmehr gehe es darum, sich im öffentlichen Raum gegenseitig zu respektieren, das Umfeld wahrzunehmen und einander Platz zu machen:
„In meiner Vorstellung gibt es gemeinsam genutzte Zonen, in denen wir alle koexistieren können. Und es zeigt sich, dass dies möglich ist. Je weniger wir uns ein falsches Sicherheitsgefühl geben – typischerweise durch Geländer, Ampeln und ähnliches –, desto besser können die Menschen miteinander existieren. Das darf man aber auch nicht übertreiben. Bei Experimenten in Großbritannien wurde eine Stadt von allem total bereinigt, und man stellte dann fest, dass sich dies zum Nachteil von Senioren und Menschen mit Sehbehinderung auswirkt.“
Der taktische Urbanismus lässt den Passanten und Verkehrsteilnehmenden also mehr Freiheiten für eigene Entscheidungen. Dies gilt nicht nur beim Vorfahrtgeben. Auch mit den verfügbaren Gegenständen zur gemeinsamen Nutzung könne beliebig – wenn auch respektvoll – umgegangen werden, betont Rút und kommt wieder auf das Projekt in der Vachova-Straße zu sprechen:
„Was den täglichen Betrieb angeht, bin ich sehr zufrieden. Dort herrschen wirklich Ruhe und die Freiheit, alles selbst gestalten zu können. Dieses Angebot wird von vielen Menschen aber noch nicht genutzt. Vor kurzem hat mich etwa eine Studentin kontaktiert, die sich wünscht, dass es dort lebhafter zugehe und die Stühle nicht so korrekt angeordnet sein müssten. Dazu sage ich, dass die Menschen es sich vor Ort einrichten können, wie sie wollen. Es ist komisch, dass mich die Leute um Erlaubnis bitten und ihnen nicht einfällt, etwas einfach selbst zu tun. Wir sind es in Tschechien also wirklich nicht gewohnt, den öffentlichen Raum selbst zu beherrschen und auszuformen. Alle fragen, ob sie dort kulturelle Veranstaltungen organisieren können. Na klar! Den Vorschriften zufolge ist nur lautsprecherverstärkte Musik verboten – das ist das einzige, was nicht geht. Ansonsten ist dies ein Raum für alle.“
Sie würde sich zudem auch noch mehr Blumenkästen, Liegestühle oder nützliche Dinge wie etwa Wasserzerstäuber wünschen, fügt Rút hinzu. Über all das sei mit der Stadtteilverwaltung und den Unternehmern im Vorfeld gesprochen und dann der Eigeninitiative überlassen worden, die allerdings noch nicht hundertprozentig funktioniere:
„Über die praktische Nutzung von Straßen herrscht hierzulande immer noch eine Auffassung wie in den 1980er Jahren. Für mich gehören Parkplätze zum Beispiel nicht dazu. Dafür sind die Autos zu groß und bringen nicht allen Menschen in der Straße einen Mehrwert, weder wirtschaftlich noch praktisch – sondern eben nur dem Besitzer.“
Auf lange Zeit angelegt
Etablierte Vorstellungen und Gewohnheiten zu ändern, braucht seine Zeit. Auch das halbe Jahr, das nun der Vachova-Straße vergönnt ist, reicht Veronika Rút zufolge noch lange nicht aus, um Konzepte des taktischen Urbanismus dauerhaft durchzusetzen. Vielmehr zeigten Beispiele wie etwa in Barcelona, dass der Gewöhnungsprozess gut und gerne zehn Jahre dauern könne. Erst dann würden die Stadtbewohner selbst beginnen, verkehrsberuhigte Zonen einzufordern, so die Designerin. Bis dahin brauche es mehrere Interventionen wie die in Brünn, und das auch in anderen Städten.
Noch schwieriger als die Anwohner seien zudem die politisch Verantwortlichen vom Nutzen des taktischen Urbanismus zu überzeugen:
„Den Politikern ist oft nicht klar, dass ihnen das bei den Wahlen zugutekommt. Wahlen können dank der Pflege des öffentlichen Raums gewonnen werden – aber das haben wir in Tschechien noch nicht begriffen. Das heißt, dass dem Thema hier immer noch weniger Aufmerksamkeit zukommt als es verdient hätte. Aber ich glaube, das kommt noch. In Polen etwa gibt es dabei gerade einen großen Boom, und es liegt dort sehr im Trend, sich um den öffentlichen Raum zu kümmern und eigene Projekte auszudenken. Es gibt natürlich auch immer eine Scheu – etwas Neues auszuprobieren, ist eben nicht leicht. Bezüglich der Vachova-Straße war es auch schwierig, den Menschen immer und immer wieder zu erklären, worum es eigentlich geht. Die Menschen hatten noch nie von einem solchen Projekt gehört und ängstigten sich in jeder Hinsicht. Ich weiß nicht, woher diese Angst kommt. Mir scheint sie überflüssig. Nationen, die weniger Angst verspüren, haben auch größere Erfolge, zum Beispiel was den Autobahnbau angeht. Hier in Tschechien sträuben wir uns aber wirklich gegen alles. Und für nichts, was wir tun, wollen wir Verantwortung übernehmen.“
Es passiere auch noch oft, fügt die Aktivistin an, dass Ideen zur alternativen Straßennutzung, Verkehrsberuhigung oder Bepflanzung von Gehwegen von den Beamten in den Rathäusern sofort abgeblockt würden – einfach, weil die Bürger nicht in der Lage seien, solche Projekte zu verteidigen oder durchzusetzen.
Veronika Rút ist allerdings recht zuversichtlich, was die langfristige Wirkung der ersten Versuche im taktischen Urbanismus hierzulande angeht:
„Nach mehreren Interventionen in verschiedenen Städten, die aneinander anknüpfen, werden die Leute einfach anfangen, sich daran zu gewöhnen und anders über Verkehr nachzudenken. Sie werden – so wie in Barcelona – verschiedene fußgängerfreundliche Verwandlungen von Straßen erleben und damit die positiven Auswirkungen für die Gewerbetreibenden, für junge Mütter mit Kinderwagen oder für Senioren. Man kann etwa sein Kind allein auf den Schulweg oder zum Spielen schicken und muss es nicht ständig unter Beobachtung haben. Wer also diesen Nutzen verspürt, der bewertet ihn meistens auch als Vorteil. Und dann überlegt man schon weiter, welche Straße oder welcher Stadtteil sich noch eignen könnten, um schrittweise umgestaltet zu werden. Darauf zielt der taktische Urbanismus ab. Es ist eben nichts gewaltsames, das ein megalomaner Ingenieur am Reißbrett planen würde. Vielmehr kommt es von den Menschen selbst und aus der Diskussion, und das Neue entsteht schrittweise und in Ruhe.“
Darum gebe es eine realistische Chance, dass nach Beendigung des Projektes in der Brünner Vachova-Straße auch woanders neue „Wohnzimmer“ entstehen, meint Veronika Rút. Das könne in der unmittelbaren Nachbarschaft sein oder in einer anderen Stadt. Der Ort sei jedoch gar nicht entscheidend. Wichtig sei vielmehr, so die Designerin, das Konzept des taktischen Urbanismus in Tschechien weiter bekanntzumachen.