Europäische Sozialpolitik in Zeiten der Globalisierung: Perspektiven aus Tschechien und Deutschland
Der Europäische Einigungsprozess hat viele neue Freiheiten gebracht, aber auch Ängste vor der Globalisierung und dem Verlust sozialer Sicherheiten. Welche programmatischen Erneuerungen braucht das Konzept einer sozialen Demokratie, um den neuen Herausforderungen zu begegnen? Das war Thema eines Vortrags, den am Freitag der deutsche Politologe Thomas Meyer, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, auf Einladung der Masaryk-Arbeiterakademie und der Friedrich-Ebert-Stiftung in Prag gehalten hat. Die anschließende Diskussion hat Jiri Kosta moderiert, ein mittlerweile 86-jähriger tschechischer Ökonom, der Auschwitz überlebt hat, in den sechziger Jahren zu den Wegbereitern des Prager Frühlings gehörte und nach der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 nach Deutschland emigrierte, wo er noch heute lebt. Nach der Veranstaltung hat Gerald Schubert beide zu einem Gespräch gebeten.
Thomas Meyer: "Ich bin davon überzeugt, dass in dem Maße, in dem sich die Versprechungen des Neoliberalismus für viele Menschen als haltlos erweisen, ihnen nicht die Lebenschancen bringen, die sie erwarten, auch das Programm der sozialen Demokratie wieder Gehör findet. In den meisten Europäischen Ländern ist es ja so, dass die Menschen leistungsbereit sind, dass sie arbeiten wollen, Arbeitsplätze suchen, aber eben auch soziale Sicherheit und soziale Teilhabe wollen. Soziale Gerechtigkeit ist überall ein großes Thema. Es gibt nirgends auf der Welt einen Menschen, der damit einverstanden ist, dass man ihm sagt: Es geht hier ungerecht zu, und so soll es auch bleiben. Das ist der Anknüpfungspunkt für soziale Demokratie."
Herr Professor Kosta, Sie leben in zwei Ländern. Sie sind in letzter Zeit mehr in Deutschland zu Hause, aber natürlich auch in Prag. Sehen Sie es auch so, dass die Diskussionen unterschiedlich verlaufen?
Jiri Kosta: "Ich glaube, in der Theorie und in der Rhetorik ist es so, wie Sie sagen: Man will hier über soziale Sicherheit und soziale Belange nichts hören. Das ist unmodern, weil es an die Vergangenheit erinnert. Aber in der Praxis, dort wo man arbeitet, dort wo man lebt, ist man sehr darauf aus, dass die sozialen Belange berücksichtigt werden und nicht verloren gehen. Ich habe einmal einen bedeutenden Politiker, der in diesem Land zur neoliberalen Elite gehört, gefragt: Was machen Sie, wenn Leute entlassen werden, weil unwirtschaftlich produziert wird? Und er hat geantwortet: Wir müssen aufpassen. Es gibt ja Wahlen und wir müssen diese Dinge in der Praxis berücksichtigen und abfedern, aber die Rhetorik, die müssen wir beibehalten. Denn sonst gibt es einen Rückfall in alte Zeiten."EU-kritische Diskurse in Westeuropa sind oft eher linke Diskurse, die mit Angst vor der Globalisierung zu tun haben, während EU-kritische Diskurse in Osteuropa, zum Beispiel in der Tschechischen Republik, sehr stark libertär geprägt sind und in extremen Ausformungen davon sprechen, dass man früher von Moskau bevormundet wurde und jetzt von Brüssel. Sehen Sie eine Chance, dass bei diesen Themen europaweit wenigstens über dieselben Dinge diskutiert werden kann?
Thomas Meyer: "Ich denke, dass auch in Westeuropa beides vorhanden ist. Es gibt einen linken und einen rechten antieuropäischen Diskurs. Im Moment ist aber eine große Ungleichzeitigkeit zu beobachten. In Westeuropa kann man europäische Themen eher mit einem Diskurs transportieren, der die soziale Dimension einfordert, während wahrscheinlich in vielen Ländern Osteuropas ganz andere Argumente eine Rolle spielen, nämlich nationalistische und zum Teil auch libertäre. Aber ich glaube, dass die neoliberalen Argumente nicht von Dauer sind, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sie die große Zahl der Menschen, die von eher neoliberal geprägten Politiken gar nicht profitieren, auf Dauer überzeugen."Stichwort transatlantische Beziehungen: Sie haben in Ihrem Vortrag davon gesprochen, dass es ein europäisches und ein eher libertär geprägtes amerikanisches Demokratiemodell gibt. Der ehemalige Premierminister und jetzige EU-Kommissar Tschechiens Vladimir Spidla, ein Sozialdemokrat, hat die transatlantische Achse aber einmal als eine sehr wichtige, ja als 'zivilisatorische' Achse bezeichnet. Sehen Sie das auch so? Beziehungsweise: Ist die Aufrechterhaltung dieser zivilisatorischen Achse einerseits und die Durchsetzung des europäischen Sozialmodells andererseits ein Widerspruch, oder kann das funktionieren?
Thomas Meyer: "Ich glaube, es gibt hier einen großen Unterschied: Viele Länder in Osteuropa waren der Meinung und sehen es als ihre historische Erfahrung an, dass vor allem der Schutz durch die USA ihnen am Ende die Freiheit gegenüber der Sowjetunion gebracht hat. Dabei unterschätzen sie oft den Beitrag der europäischen Entspannungspolitik, der nur gering veranschlagt wird. Diese historische Erfahrung bringt sie dazu, dass sie die realpolitische Härte der USA als wirklich sicheren Freiheitsgaranten wahrnehmen, und die ganzen Unsicherheiten und Abstimmungsprobleme in Europa zum Teil eher als Problem. Das ist eine andere Sicht. Ich teile diese Sicht nicht, aber ich verstehe die Geschichte, die zu dieser Sicht geführt hat. Ich bin der Meinung, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedsländer einen großen Zivilisationsvorsprung gegenüber den USA haben, weil ich der Ansicht bin, dass der Sozialstaat ein großer Zivilisationsfortschritt des 20. Jahrhunderts gewesen ist."
Osteuropa, auch Tschechien, galt aus deutscher Sicht früher als Ausweichquartier für Firmen - Stichwort Steuerdumping. Heute ist es nicht mehr Osteuropa, heute sind es weiter entfernte Staaten, wie zum Beispiel China. Was sagen Sie denen, auch in der Tschechischen Republik, die lieber niedrige Steuern wollen, um Arbeitsplätze zu behalten - allerdings um den Preis, dass die soziale Infrastruktur darunter leidet?Thomas Meyer: "Wir würden uns wünschen, dass es eine Steuerharmonisierung im Rahmen der Europäischen Union gibt. Die müsste natürlich die unterschiedlichen Produktivitätsniveaus berücksichtigen und die unterschiedlichen Wettbewerbspositionen mit in Rechnung stellen. In dem Maß, in dem bestimmte Kompensationen notwendig würden, müsste man diese dann auch aufbringen. Wir sind also dafür, über Steuerharmonisierungen das soziale Modell der Europäischen Union dichter zu organisieren, und - wie es bisher immer der Fall war - Ausgleichzahlungen und Hilfestellen in dem Maße zu geben, wie es erforderlich ist."
Herr Professor Kosta, Sie sind Wirtschaftswissenschaftler. Stimmen Sie zu?
Jiri Kosta: "Ja, diesem Aspekt stimme ich zu. Und noch etwas anderes scheint mir wichtig zu sein: Die Slowaken haben ja in der Steuerpolitik eine neoliberale Richtung eingeschlagen. Sie haben eine ganz niedrige Einheitssteuer angesetzt und prahlen ein bisschen damit, dass das sehr erfolgreich sei. Ich glaube, das geht hier in der Tschechischen Republik nicht. Hier ist man meiner Ansicht nach vorsichtiger, auch in breiten Bevölkerungsschichten. Der slowakische Weg ist hier gar nicht so populär. Die Menschen haben doch Angst, dass sie dann um ihre sozialen Errungenschaften kommen würden. Das fühlen die schon."
Thomas Meyer: "Mir hat neulich ein schwedischer Kollege gesagt: Wenn in Schweden eine Partei im Wahlkampf mit Steuerreduktionen wirbt, dann fragen die Bürger: Was wollen die uns wegnehmen? Denn sie wissen - an irgendeiner Stelle muss dann ja gestrichen werden."