Zurück zu den Wurzeln - das sagen sich in Dobruska alljährlich die Kinder und Enkel tschechischer Emigranten
Die nordostböhmische Stadt Dobruska ist mit ihren etwas über 7000 Einwohnern ein Nest. Und dennoch - jedes Jahr im Sommer scheint sie den Hauch einer Weltstadt zu bekommen. Dann nämlich, wenn für vier Wochen 60 Tschechisch-Lerner aus aller Herrenländer anreisen. Wer hier lernt und warum, dazu nun mehr von Christian Rühmkorf in der Sendereihe "Begegnungen".
"Hier in Dobruska werden Landsleute unterrichtet, deren Familien oder Großeltern tschechische Wurzeln haben. Sie wollen an diese Tradition anknüpfen und Tschechisch lernen oder ihre Sprachkenntnisse verbessern. Manche können es schon wirklich gut."
Die Landsleute bekommen ein Stipendium von der tschechischen Regierung. In diesem Jahr gab es an die 200 Anmeldungen aus 30 verschiedenen Ländern für insgesamt 60 Plätze. Um es gerecht zu machen, hat man aus jedem Land zwei Tschechischhungrige in die Kurse aufgenommen.
Vera kommt aus Holland. Aus Holland kommen im Sommer viele nach Tschechien und zwar mit ihren Wohnwagen - um Urlaub zu machen.
"Ich habe keinen Wohnwagen! Meine Eltern haben einen in Holland. Meine tschechische Großmutter hat meinen holländischen Großvater in einem Arbeitslager im Zweiten Weltkrieg in Deutschland kennen gelernt. Sie haben sich verliebt und sind nach dem Krieg nach Holland gegangen. Mein Vater ist also zur Hälfte Tscheche. Und ich möchte gern wissen, wo meine Großmutter eigentlich herkommt, etwas lernen über ihre Kultur und ihre Sprache."
Jan Paterson kommt aus England und arbeitet bei der BBC. Seinen Vornamen Jan - in Koseform Honza - hat er wohl seiner Mutter zu verdanken:
"Meine Mutter ist Tschechin. Sie kam 1948 nach England und lebt dort schon seit 60 Jahren. Ich bin in den 40ern, spreche leider kein Tschechisch, aber merke langsam, dass ich mehr über meinen Hintergrund und die Geschichte meiner Familie wissen möchte."
Schon als Junge kam Jan Paterson aber mit der tschechischen Herkunft seiner Mutter in Berührung:
"1968, als ich ein kleiner Junge war, kamen einige Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei zu uns. Das war etwas Besonderes für meinen Bruder und mich, all die Leute, die auf dem Boden geschlafen haben und so weiter. Daran kann ich mich im Zusammenhang mit den Ereignissen damals in der Tschechoslowakei noch erinnern. Deswegen ist es sehr aufregend für mich hier zu sein."
In den meisten Fällen geht es um Flucht. Flucht vor den Nationalsozialisten, Flucht vor den Kommunisten. Der Ingenieur Sebastian Bajsa ist ganz aus Uruguay angeflogen, um in Dobruska Tschechisch zu lernen. Seine Wurzeln liegen zum Teil noch verborgen in der Erde."Ich bin hier, weil mein Großvater Tscheche war. Er emigrierte 1928 nach Südamerika und heiratete dort meine Großmutter, eine Frau aus Uruguay. Dann kam mein Vater zur Welt und später meine Schwester und ich."
Die Tschechoslowakei war in den 20er Jahren nicht nur eine Demokratie, sie war auch ein prosperierender Staat. Den Menschen ging es gut. Warum sein Großvater damals ausgewandert ist - Sebastian weiß es nicht.
"Wir wissen es einfach nicht. Mein Großvater starb, als mein Vater erst zwei Jahre alt war. Wir haben dadurch einen Teil unserer Geschichte verloren. Und wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb ich hier bin: die Dinge zu finden, die in Vergessenheit geraten sind."Mit dem frühen Tod des Großvaters ist auch ein Teil der Familiengeschichte begraben worden.
"Es ist eine eigenartige Geschichte. Meine Großmutter hat meinem Vater nie viel erzählt - auch nicht über die Herkunft meines Großvaters. Und ich habe noch nie ein Bild von ihm gesehen. Deshalb haben meine Schwester und ich entschieden, uns einen Teil unserer Geschichte zurückzuholen. Wir suchen Dokumente und hoffen am Ende die Geburtsurkunde meines Großvaters zu finden. Einige Hinweise haben wir jedenfalls, denn bei seiner Ankunft in Südamerika musste er bei den Behörden ein paar Daten angeben. Wir wissen daher, dass er Kellner war, dass er katholisch war und wir wissen, dass er mit dem Schiff `Atlanta` über Triest ausgereist ist."
Viel ist das nicht, aber immerhin etwas. Erfolgreicher war die Spurensuche dann aber in Tschechien selbst:
"Wir haben im tschechischen Telefonbuch nach unserem Nachnamen Bajsa gesucht und den gab es nur vier Mal. Also haben wir vier Briefe geschrieben. Sie haben alle geantwortet und es hat sich herausgestellt, dass einer von ihnen der Cousin meines Vaters ist."
Und der lebt in Brünn. Sebastian mag dieses Land. Von der Leib-und-Magenspeise der Tschechen hat er allerdings schon jetzt genug: "Ich habe die tschechischen Knödel satt!", sagt er. Tschechische Knödel wird die gebürtige Dresdnerin Lysann Schönherr hingegen wohl langfristig ertragen müssen. In ihren Adern fließt zwar kein tschechisches Blut, aber das braucht es auch nicht, um in Dobruska dabei zu sein. Lysann ist aus einem anderen Grund gekommen:
"Also ich war Deutschlehrerin bei Skoda-Auto und er arbeitet bei Skoda-Auto und so haben wir uns kennen gelernt."
"Er", das ist ihr tschechischer Freund, mit dem sie bald in Hradec Kralove / Königgrätz zusammenleben wird. Und das ist auch ein Grund in Dobruska Tschechisch zu lernen. Und gar nicht mal ein schlechter!
Foto: Martina Stejskalova